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Barbarei und Ratlosigkeit

Eine Ausstellung im Hamburger Kampnagel will das „Jahrhundert der Barbarei“ anhand von sieben Daten des Jahres 1945 erschließen  ■ Von Christian Semler

Wäre anläßlich der Weltausstellung von 1894 ein der Geschichte zugetaner deutscher Unternehmersohn auf den Gedanken verfallen, dem zu Ende gehenden Jahrhundert eine Ausstellung zu widmen, die Ausstellungsmacher hätten leichtes Spiel gehabt. Der weltweite Triumph der Zivilisation wäre das Leitmotiv, der Anteil des deutschen Ingeniums an ihm der besondere Lichtpunkt der Präsentation gewesen. Nach einem Schlüsseljahr befragt, hätte der junge Philantrop die Achseln gezuckt. Denn die Zeit wäre ihm als Kontinuum erschienen, dafür bestimmt, in wohlgeordnete Etappen zerlegt und vom Fortschritt aufgefüllt zu werden.

Ein Jahrhundert später beschließt das von Jan Philipp Reemtsma inspirierte Hamburger Institut für Sozialforschung, 200 Tage des Jahres 1945 zum Reflexionsraum zu bestimmen, innerhalb dessen ein Jahrhundert der Gewalt und Destruktivität sich in sieben Daten verdichten soll: dem 27.1., Tag der Befreiung von Auschwitz, 11.2., Absprache in Jalta zur Vorbereitung eines Kriegsverbrecher-Tribunals, 11.3., Unabhängigkeitserklärung Kambodschas und Vietnams, 25.4., Gründungsversammlung der UNO, 8.5., das Massaker unter der Zivilbevölkerung im algerischen Setif, 7.7., Teilamnestie und erneute Massenverfolgungen in der Sowjetunion, 6.8. Detonation der Bombe über Hiroshima.

Unter der Pathos-Formel „Angesichts unseres Jahrhunderts“ präsentiert das Institut Vorträge, Publikationen, szenische Lesungen, eine Ausstellung über den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht und, als Quintessenz, eben die Ausstellung „200 Tage und ein Jahrhundert“, die am vergangenen Samstag eröffnet wurde – im Hamburger Kampnagel. Die Wahl des Ortes verrät historischen Hintersinn. Inspirierte doch das damalige Fabrikgelände Willi Bredel vor 1933 zu dem proletarischen Roman „Maschinenenfabrik N und K“, der noch von den radikalen Studenten der 60er Jahre als Vorgriff auf die entscheidende Auseinandersetzung „Klasse gegen Klasse“ gefeiert wurde.

Das Hamburger Institut möchte, wie es in dem Begleitband zur Ausstellung heißt, darstellen, wie „Auschwitz, der Gulag und Hiroshima auf je eigene Weise gemeinsam die Vorstellung von gesellschaftlicher Gewalt und ihrer Begrenzbarkeit zerstört, die für die Moderne charakteristisch gewesen ist“. Vergleichen ist nicht gleich gleichsetzen, da ist den Hamburgern zuzustimmen. Aber allen Mühen um Genauigkeit zum Trotz wird hier ein Einheitsbrei angerührt, eine Weltklage vom Umschlag der Zivilisation in Barbarei angestimmt, wird, durch das Aneinanderrücken der Daten mehr als durch Argumentation, eine Vorstellung von Totalitarismus evoziert, die einebnet, wo es gelten würde zu differenzieren. Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima war ein grausames Verbrechen, und er war sinnlos. Aber er folgte aus einer gänzlich anderen Logik als die Vernichtungspolitik der Nazis, und auch seine Folgen waren gänzlich andere. Es ist wahr, dem Gulag fielen mehr Menschen zum Opfer, als in den deutschen Konzentrationslagern umkamen. Aber kann die stalinistische Doktrin und Praxis des Klassenkampfs unterm Sozialismus (z.B. „Liquidation der Kulaken als Klasse“) auf gleicher Ebene behandelt werden wie der nazistische Krieg der Rassen? Es geht nicht um Abstufungen im moralischen Urteil, es geht ums Verstehen, wenn nicht alles untergehen soll im „Jahrhundert der Barbarei“.

Unter den gegebenen Prämissen konnte die Ausstellung nur scheitern. Wie soll man ausdrücklich nicht die Ereignisgeschichte des Jahres 1945 visualisieren, sondern eine geschichtsphilosophische Konstruktion, die sich um die Jahrhundert-Bedeutung ausgewählter Daten dreht? Wie den behaupteten Zusammenhang des Verhängnisses einsichtig machen, wie dem Besucher suggerieren, wir lebten heute in durch die Ereignisse dieses Jahres schicksalshaft determinierten, völlig neuen Gesellschaften? Von dieser Vorgabe erschlagen, zogen sich die Ausstellungsmacher auf ein absolutes Minimum zurück und dementierten damit ihre eigenen wissenschaftlich- pädagogischen Absichten. Sie segmentierten die sieben Daten in sieben Ausstellungsräumen, die kreisförmig um einen zylindrischen Drahtkäfig gelagert wurden, auf dem die Chronologie des Jahres 1945 verzettelt ist. Ausstellungsobjekte sind fast durchwegs Fotografien, die allerdings mehr illustrieren, als daß sie Konstellationen sinnfällig machten. Die Ausstattung der einzelnen Räume driftet hart am kunstgewerblichen Abgrund entlang. Beeindruckende Fotos aus den sowjetischen Lagern werden von Sackleinengewebe verhüllt, der in aller Welt nach 1945 praktizierte Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung erschließt sich in einem abgedunkelten Raum in Form von belichteten Farbfotos, eine Art von Guckkästen, denen nicht identifizierbare Landkartenausschnitte unterlegt sind, der UNO-Raum ist blau angestrichen etc.

Falls die Ausstellungsmacher Ratlosigkeit erzeugen wollten, ist ihnen das bei dem Raum, der den nationalen Befreiungskriegen in Indochina und dem Völkermord der Roten Khmer gewidmet ist, glänzend gelungen. Auf einer Drehscheibe sind zwei durch eine Wand getrennte Schreibtische aufgebaut, ein zierlicher, der Pol Pots, ein protzig-klobiger, der Kissingers Arbeitsplatz darstellen soll. Über den Schreibtischen die Arbeitslektüre der beiden Protagonisten, die Schriften, die sie inspirierten. Eine gänzlich verfehlte Theorie-Praxis-Allegorie. Denn Kissingers Aktionen wurden nicht durch die Lektüre verführerischer Texte bestimmt, sondern von den Imperativen klassischer Großmachtdiplomatie. Die Schriften des europäischen Dritte-Welt-Marxismus aber, die Pol Pot, Khieu Samphan und die anderen künftigen Massenmörder beeinflußten, sind sämtlich nicht zu finden. Eine Vermittlung, die nichts erklärt.

Das Konstruktionsprinzip der Ausstellung verhindert, daß thematisiert wird, was uns umtreibt bis in die Träume hinein. Das neue Verhängnis, die Wiederkehr des 30jährigen Krieges, diesmal in Jugoslawien, der Kollaps aller Staatlichkeit in Somalia oder Ruanda. Die UNO als Leviathan oder der Sieg des Behemot oder doch noch ein menschenfreundlicher Ausweg? Vielleicht doch kein Ausstellungsthema.

Noch bis zum 5.3. in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel

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