piwik no script img

„Umfassende Partnerschaft“ mit Rußland

Der Krieg in Tschetschenien hat das Dilemma der deutschen Außenpolitik am deutlichsten offengelegt / Am Verhältnis zu Rußland entscheidet sich der weitere Ausbau der EU und der Nato  ■ Von Jürgen Gottschlich

Es war das erste Mal in dieser Legislaturperiode, und es wird voraussichtlich auch das einzige Mal bleiben. Am Freitag, 20. Januar, morgens um neun Uhr – damit sie noch alle rechtzeitig in ihre Wahlkreise kommen, wie der parlamentarische Geschäftsführer der SPD seinen GenossInnen per Lautsprecher als Motivationsschub mitteilte – stimmten alle Fraktionen, einschließlich der PDS-Bundestagsgruppe, einer Entschließung zum Krieg in Tschetschenien zu. Die seltene politische Einmütigkeit entsprang einem gemeinsamen Motiv: Hilflosigkeit – angesichts der Brutalität, mit der die russische Führung ihre Armee im Kaukasus eine „innere Angelegenheit“ regeln läßt, und des trotzdem über alle Fraktionen hinweg stark ausgeprägten Gefühls, die Verbindung zu Rußland aufrechtzuerhalten, jetzt nicht auch noch das bißchen Geschirr zu zerschlagen, das man sich in den Jahren seit Ableben der Sowjetunion mit Rußland gemeinsam angeschafft hat.

Der Preis für die Demonstration politischer Geschlossenheit des Bundestages ist wenige Tage später zu besichtigen. Bereits bei der Frage, ob Wirtschaftsminister Rexrodt nun einen Beratungstermin in St. Petersburg wahrnehmen sollte oder nicht, gab es wieder erhebliche Differenzen. Die Fragen der praktischen Politik gegenüber Rußland sind weiterhin völlig ungeklärt. „Die Probleme Rußlands“, sagt der außenpolitische Vordenker der CDU-Fraktion, Karl Lamers, „lassen sich nicht kurzzeitig lösen.“ Den Vorschlag aus den Reihen der Grünen, darauf hinzuarbeiten, daß auch Rußland einmal EU-Mitglied werden könne, findet Lamers „vollkommen unrealistisch“. Rußland könne und wolle sich den Regeln der EU nicht unterordnen. „Ein Beitritt Rußlands würde die EU auch sprengen“.

Auf welcher Ebene soll die Zusammenarbeit mit Rußland dann langfristig stattfinden? Der Sprecher der Grünen, Jürgen Trittin, hält die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) für den einzig sinnvollen Rahmen, Rußland ökonomisch, militärisch und kulturell – beispielsweise bei der verbindlichen Anerkennung von Menschenrechten im Umgang des Staates mit seinen BürgerInnen – in Europa zu integrieren. Offiziell setzt auch die SPD noch auf die OSZE, intern allerdings weit weniger überzeugt als die Grünen. Für die CDU ist die OSZE dagegen nicht viel mehr als schmückendes Beiwerk zu künftigen Vereinbarungen mit Rußland. Man müsse zwar ernsthafte Anstrengungen zum Ausbau der OSZE unternehmen, dürfe aber nicht heute bereits so tun, „als sei dies eine funktionierende Organisation“.

Tatsächlich hat Rußland im Tschetschenien-Feldzug vielfach gegen Buchstaben und Geist der OSZE-Vereinbarungen verstoßen, bis hin zu klaren Abmachungen über Umfang und Stationierung seiner Panzerverbände. Dieses Vorgehen Rußlands hat vor allem in Polen, Tschechien und Ungarn die Debatte um einen Beitritt in die Nato erneut intensiviert. Im Rahmen einer sicherheitspolitischen Konferenz in Berlin ist Bonns Verteidigungsminister Volker Rühe deshalb in der letzten Woche erstmals vorgeprescht und hat, unter Vorwegnahme der Ergebnisse eines Prüfauftrages, den die Nato bei ihrem letzten großen Treffen Anfang Dezember 94 erteilt hatte, öffentlich Bedingungen genannt, die die potentiellen Beitrittskandidaten erfüllen sollen. Allerdings machte Rühe eine Einschränkung, die auf eine CDU-interne Verständigung hindeutet. Die Erweiterung der Allianz, so Rühe, müsse „Hand in Hand gehen mit der Erweiterung der Europäischen Union“. Unterschiedliche Mitgliedschaften in EU und Nato dürfe es nur für kurze Übergangszeiten geben.

Wer geht zuerst nach Osten: Nato oder EU?

Diese Frage war innerhalb der Koalition, aber auch innerhalb der CDU, lange umstritten. Noch vor einem Jahr plädierte Rühe, im Gegensatz zu Kinkel, aber auch zu anderen CDU-Außenpolitikern, vehement für eine schnelle Aufnahme der Osteuropäer in die Nato. Während klar ist, daß ein EU-Beitritt zehn bis 15 Jahre Vorlaufzeit benötigt, könnte ein Nato- Beitritt, technisch gesehen, sehr viel schneller über die Bühne gehen. Allerdings verbunden mit der Gefahr, eine Verständigung mit Rußland, die auch eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit miteinschließt, vollends aufs Spiel zu setzen. Die Weigerung Kosyrews, Anfang Dezember während der Nato-Tagung in Brüssel die Vereinbarungen zur Durchführung des Nato-Programms „partnership for peace“ zu unterzeichnen, und die Warnung Jelzins vor einem neuen Kalten Krieg während des OSZE-Gipfels in Budapest sorgten da für eine Dramatisierung, die allerdings aus CDU-Sicht nicht mehr notwendig gewesen wäre. Bereits in den als „Schäuble- Papier“ bekannt gewordenen Kerneuropa-Thesen der CDU-Bundestagsfraktion, die sechs Wochen vor der Bundestagswahl vor allem im EU-Ausland für Wirbel sorgten, wurde, zum damaligen Zeitpunkt kaum beachtet, der EU-Erweiterung nach Osten eindeutig der Vorrang eingeräumt.

Dazu steht Lamers, der die „Überlegungen zur europäischen Politik“, wie das Strategiepapier offiziell heißt, maßgeblich formuliert hat, auch nach dem Tschetschenien-Krieg noch. In dem Kerneuropa-Papier setzt die Union statt auf die Nato in der heutigen Form mehr darauf, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU schneller und umfassender zu vereinheitlichen als im Maastricht-Vertrag bislang vorgesehen. Das soll auch nach innen und außen klarmachen, daß es innerhalb der EU keine Zonen ungleicher Sicherheit geben kann. Eine Ausdehnung der EU ist aber aus Moskauer Sicht etwas anderes, sprich weniger Dramatisches als eine Verlegung der Nato-Grenze nach Osten. Lamers und Schäuble plädieren dafür, daß die Nato zukünftig nicht mehr aus einer Vielzahl von Ländern besteht, sondern daß die EU einen neuen Atlantikpakt mit USA und Kanada abschließt. Gleichzeitig sollte die EU mit Rußland eine „umfassende Partnerschaft“ anstreben.

Mit der Nato-Mitgliedschaft allein, da sind sich die meisten Außenpolitiker der bundesdeutschen Parteien einig, wäre den Osteuropäern sowieso nicht geholfen. „Der Tschetschenien-Krieg hat ja gerade auch gezeigt“, meint der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler, daß die russische Armee, selbst wenn man ihr schlimmste Absichten unterstellt, „gar nicht in der Lage wäre, einen großen Angriff nach Westen zu unternehmen.“ Auf die tatsächlichen Probleme in Osteuropa, wie unsichere Grenzverläufe oder die Existenz größerer Minderheiten mit ungeklärtem Status, sei die Nato aber keine Antwort. „In solchen Fragen hat die Nato in ihrer Geschichte bislang nie eingegriffen.“ Bestes Beispiel sei die türkische Invasion auf Zypern 1974 oder auch der jetzige Krieg gegen die Kurden. Auf der bereits erwähnten sicherheitspolitischen Konferenz in Berlin ging Rühe ausdrücklich auf diese Fragen ein. Eine Voraussetzung für einen Beitritt zur Nato soll demnach sein, daß Beitrittskandidaten keine neuen Konflikte in die Allianz tragen, Minderheitenprobleme in den eigenen Reihen also vor einem Beitritt gelöst haben müssen.

Damit dürfte auch Rühe akzeptiert haben, daß ein schneller Nato- Beitritt der Osteuropäer als gegen Rußland gerichteter Schritt in der CDU nicht mehrheitsfähig ist. Auf welchem Weg aber sollen die östlichen Beitrittskandidaten in die EU? Gernot Erler kritisiert an dem Lamers/Schäuble-Papier unter anderem, daß da so getan wird, als sei Vertiefung und Erweiterung der EU gleichzeitig zu haben. „Das ist natürlich eine Fiktion.“ Indirekt räumt Lamers ein, daß man nicht beides auf einmal haben kann. So ist in Bonn weithin unbestritten, daß es ohne eine grundlegende Reform der EU-Institutionen keine sinnvolle Erweiterung mehr geben kann. Das, sagt Lamers, werde auch in Osteuropa so gesehen. „Schließlich wollen ja gerade diese Länder nicht einer Freihandelszone beitreten, sondern einer politischen Union.“ Allerdings geht die CDU davon aus, daß nur ihr Kerneuropa, vor allem das Tandem Frankreich-Bundesrepublik, eine Reform innerhalb der notwendigen Fristen durchsetzen kann. Wenn eine kleine Gruppe voranmarschiert, glaubt Lamers, werden die anderen schon nachkommen. Das sei in der Geschichte der EWG, EG und EU immer so gewesen. „Ein Kerneuropa wirkt wie ein Magnet.“ Seine Hauptaufgabe soll es sein, die Währungsunion durchzusetzen. „Wenn es in den Kerneuropaländern eine gemeinsame Währung gibt, wird sich auch Großbritannien daran beteiligen müssen. Sonst verliert der wichtigste europäische Finanzplatz London seine Bedeutung.“ „Deswegen“, meint Lamers, „sind die britischen Finanzkreise auch alle für einen Beitritt Großbritanniens in die Währungsunion.“

Ein Kerneuropa für die Währungsunion

Einer der größten Brocken, die es auf dem Weg in ein größeres und enger verbundenes Europa aus dem Weg zu räumen gilt, ist allerdings auch mit dem Kerneuropa- Konzept nicht zu bewegen: das System der Agrarsubventionen muß gründlich renoviert werden. Zum einen hat die EU sich im Rahmen der Gatt-Verhandlungen bereit erklärt, bis 1997 Subventionen an ihre Bauern in relevantem Umfang abzubauen, zum anderen könnte man die bestehenden Subventionen gar nicht mehr zahlen, wenn die osteuropäischen Agrarländer noch dazukämen. Lamers ist allerdings auch in dieser Frage Optimist. Frankreich werde bei einer Agrarreform letztlich doch mitmachen, und mit den USA werde man sich schon einigen. Das nächste entscheidende Datum ist die Maastricht-Überprüfungskonferenz 1996. „Wenn die Konferenz 1996 scheitert und die Währungsunion nicht kommt, verlieren wir mindestens zehn Jahre“, meint Lamers. Zehn Jahre, in denen die EU sich möglicherweise wieder zurückentwickelt zu einer europäischen Freihandelszone, in der die Unsicherheit in Osteuropa wächst und in der das Verhältnis zu Rußland völlig diffus bleibt.

Die Gefahr dieser Regression hält Lamers jedoch für ziemlich gering, denn objektiv sei die europäische Integration einfach richtig: „Das auf den Nationalstaaten beruhende System der „Balance of Power“ ist nicht wegen der unzulänglichen Handhabung gescheitert, sondern wegen der Schwächen des Systems als solchem.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen