Öko-Hochhäuser aus getretnem Quark

Umweltfreundliche Alternative oder „Arme-Leute-Baustoff“? / Berliner Verein fördert Lehmbau / Trotz steigenden Kundeninteresses tun sich Baustoffindustrie und Behörden noch schwer  ■ Von Henry Lohmar

„Getretner Quark wird breit, nicht stark. Schlägst du ihn aber mit Gewalt – in feste Form, nimmt er Gestalt.“ Diese Zeilen aus Goethes West-östlichem Divan sind keine Anleitung, seinen Nachtisch zu bereiten, sondern eine poetische Beschreibung des Lehmstampfbaus. In der Gegend des Herzogtums Sachsen-Weimar, wo Goethe lebte, stehen noch heute 200 Jahre alte Lehmhäuser.

Was damals selbstverständlich war, wird heute nach und nach wiederentdeckt: Lehm als Baustoff. Kein anderes Baumaterial verträgt sich so prima mit Mensch und Natur und ist gleichzeitig überall verfügbar. Der Stoff, der im wesentlichen aus Ton, Sand und Kies besteht, liegt nämlich unter uns.

Das Bauen mit Lehm ist unproblematisch, wenn man eine Grundeigenschaft des Materials berücksichtigt: seine Feuchte-Empfindlichkeit. Große Dachüberstände oder Außenputz sind notwendig, um den Lehm vor Feuchtigkeit und Verwitterung zu schützen.

Die verschiedenen Lehme sind überall am Bau einsetzbar. Leichtlehmsteine eignen sich zur Ausfachung tragender Holzskelette; Massivlehm kann auch zum Hochziehen selbsttragender Innenwände genutzt werden. Die verwirrende Vielfalt von Lehmbautechniken bietet für fast jedes bautechnische Problem eine Lösung.

Bei allen Vorzügen fehlt dem Baustoff Lehm vor allem eines: die Reputation auf dem Markt. Doch Bauingenieur Burkhard Rüger ist entschlossen, ihn aus seinem Schattendasein zu befreien. Zusammen mit Jörg Depta von der Gesellschaft für Stadtentwicklung (GSE) gründete er Anfang 1992 den Verein „Lehmbaukontor Berlin-Brandenburg“. Informieren, werben, Kontakte herstellen, kurz: dem Lehm wieder eine Lobby geben, das ist das wesentliche Ziel des Vereins. Jeden ersten Dienstag im Monat lädt das „Kontor“ in eine Hinterhofwerkstadt in der Linienstraße zum „Lehmbaustammtisch“ ein. Vom Unternehmer bis zum Laien treffen sich dort alle, die am Lehmbau interessiert sind.

Der gelernte Töpfer Rüger hat mittlerweile ein nahezu erotisches Verhältnis zu dem Material entwickelt: „Wer einmal in einem Lehmhaus geschlafen hat“, schwärmt Rüger, „der will nicht mehr zurück in die synthetische Athmosphäre sogenannten modernen Bauens.“ Denn aufgrund seiner feuchtigkeitsregulierenden Wirkung sorgt Lehm für eine gleichbleibende, dem Menschen angenehme relative Luftfeuchtigkeit von 50 bis 60 Prozent. Bei herkömmlichen Baustoffen schwanken die Werte in den Innenräumen zwischen 20 Prozent im Winter und 70 Prozent im Sommer. Der Schadstoffgehalt im Lehm ist gleich Null – angesichts des chemischen Cocktails heutiger Bau- und Bauhilfsstoffe eine gute Nachricht besonders für Allergiker. Neben dem Wohnen ist, im Gegensatz zu herkömmlichen Stoffen, auch das Bauen mit Lehm unbedenklich.

Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der niedrigen Gleichgewichtsfeuchte des Materials: Lehm wirkt holzkonservierend. Gerade bei Fachwerken, deren Füllung traditionell aus Lehm besteht, bewährt sich diese Eigenschaft hervorragend. Burkhard Rüger erinnert sich an Bauherren, die ihr altes Fachwerk unbedingt mit dichtem, wasserundurchlässigem Material füllen wollten. Die Folgen waren fatal: Das Kondenswasser staute sich, bis das Holz verrottete.

Anders in Ländern, wo der Lehmbau eine ungebrochene Tradition hat. Im Südjemen zum Beispiel stehen Lehmneubauten neben den ältesten Hochhaussiedlungen der Welt: Achtstöckige Lehmhäuser, die Jahrhunderte überdauerten, sind dort keine Seltenheit. Im Südwesten der USA gilt es seit der Wiederentdeckung des Lehmbaus durch die Hippies in den Siebzigern als schick, in einem Lehmhaus zu wohnen. Lehm ist dort ein Baustoff der Oberschicht.

Die letzte Renaissance des Lehmbaus in Deutschland ist lange her. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man – zum Teil aus Mangel an Alternativen – verstärkt mit Lehm. Die „Reichslehmbauordnung“ aus dem Jahr 1944 wurde sechs Jahre später wörtlich als DIN übernommen; Lehm wurde ein behördlich geregelter Baustoff.

Auch in der DDR wurde nach dem Krieg kräftig mit Lehm gebaut. Schätzungen zufolge gibt es heute in den neuen Bundesländern etwa 200.000 Lehmgebäude. Die sechziger Jahre waren für den Baustoff Lehm hüben wie drüben das Ende. Ziegel aus anderen Materialien, vor allem Beton, traten den Siegeszug auf den Baustellen an. 1971 wurde in der Bundesrepublik die DIN 18951 „Lehmbau“ aufgrund der „nicht mehr vorhandenen wirtschaftlichen Bedeutung“ gestrichen.

Wirtschaftliche Bedeutung hat der Lehm für Heidulf Perplies durchaus. Der Geschäftsführer der AHZ GmbH ist einer der wenigen Berliner Händler, die Lehmbauprodukte im Sortiment haben: vom einzelnen Lehmstein bis zum schlüsselfertigen Lehmhaus zu 3.000 Mark pro Quadratmeter.

Die Steine fertigt seine Firma mit der Abwärme einer herkömmlichen Ziegelei in Polen. Die relativ langen Austrocknungszeiten – ein Nachteil des Lehms – behindern schon mal den Baufortschritt, denn es muß reichlich vorgefertigt werden. Aus ökologischer Sicht ist die Lufttrocknung der Lehmsteine alles andere als ein Nachteil. Für die Produktion von gebrannten Ziegeln zum Bau eines Einfamilienhauses werden Tausende Liter Heizöl verbraucht.

Simone Haase von der Berliner Firma „Lehmhaus“ sieht einen deutlichen Trend zum umweltgerechteren Bauen, „das kommt uns zugute“. Zwar mache das Ausbessern von Fachwerken den Löwenanteil der Arbeit aus, doch füllten zunehmend Neubauprojekte die Auftragsbücher der Firma, die ausschließlich vom Lehmbau lebt: „Und das geht ganz gut“, sagt Haase schmunzelnd.

Auch Heidulf Perplies ist überzeugt, daß eine Massenproduktion für den großflächigen Einsatz möglich ist. Noch aber sperre sich die Baustoffindustrie und tue alles, um das Vorurteil des „Arme-Leute-Baustoffs“ aufrechtzuerhalten. Auch die Behörden seien unflexibel, kritisiert Jörg Depta vom Lehmbaukontor. Als er beim Arbeitsamt beantragte, die Ausbildung der GSE im Lehmbau zu fördern, wurde dies abgelehnt. Lehmbau sei „arbeitsmarktpolitisch nicht relevant“, lediglich als Zusatzqualifikation wird er anerkannt. Burkhard Rüger: „Solange wir staatlicherseits keine Unterstützung gegen die Baustofflobby kriegen, bleibt es für die Naturbaustoffe schwer, sich durchzusetzen.“