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Der hohle Klang der Muschel

Indiens Wahlkommissar versetzt die Politiker des Landes in Angst und Schrecken: Ein Verstoß gegen die Richtlinien – und schon setzt es Knast  ■ Aus Bombay Bernard Imhasly

Das neue Jahr begann schlecht für Shanti Swarup Pannalal. Am 20. Januar wurde er von der Polizei in Vasai, einem entlegenen Vorort von Bombay, verhaftet. Das Verbrechen des Politikers, der sich soeben in den Kampf für die Wahl in das Provinzparlament von Maharashtra gestürzt hatte, war eine Lappalie: er hatte versäumt, seine tägliche Abrechnung von Wahlkampfausgaben dem Wahlkampfleiter des Distrikts zu unterbreiten.

Die Strafe – zwei Wochen Knast und drei Jahre Verbot, für ein politisches Amt zu kandidieren – schuf in den Parteien des Bundesstaates, wo am 9. und 12. Februar gewählt wird, eine regelrechte Angstpsychose. Denn sie bedeutete, daß T.N. Seshan, der gefürchtete Chief Election Commissioner, seine Richtlinien für das Verhalten im Wahlkampf eisern durchsetzen würde.

Zwar ist die Broschüre, die jedem Kandidaten mitgegeben wird, lediglich eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der Wahlgesetze – aber keine Wahlbehörde hatte es bisher gewagt, dem Gesetz mit dieser Konsequenz Achtung zu verschaffen. Denn eine Behörde besteht aus Beamten, und diese, so Seshans abfälliges Urteil über seine Kollegen, „haben sich zu Prostituierten der Politiker degradieren lassen“.

Auch Seshans Vorgänger waren zufrieden gewesen, wenn ihnen jeweils das Kunststück gelang, an einem einzigen Tag oft Dutzende Millionen von Wählern an die Urnen zu bringen. Daß diese dabei durch Lockmittel oder Einschüchterung beeinflußt wurden, daß Wahlkämpfe oft zu blutigen Kleinkriegen ausarteten, daß massive Wahlfälschungen begangen wurden: all dies gehörte offenbar zum Preis, den das Land für den „Luxus“ seiner Demokratie bezahlen mußte.

Seshan, ein bulliger Tamile, der es unter Rajiv Gandhi zum Spitzenbeamten gebracht hatte, war der erste, der die außerordentliche Macht und Immunität ausnützte, welche die Verfassung aus guten Gründen dem demokratischen Kampfrichter einräumt: Der Chief Election Commissioner kann nur durch das Parlament von seinem Posten entfernt werden; er kann für die Sicherstellung einer geordneten Wahl die gesamte Staatsverwaltung (selbst paramilitärische Verbände) unter sein Kommando nehmen.

Und das Wahlgesetz gibt ihm die wirksamste Peitsche gegen widerspenstige Politiker an die Hand: Er kann jeden Kandidaten kurzerhand von der Wahl ausschließen.

Als Seshan in den Provinzwahlen von 1992 erstmals Truppen für den Schutz von Wahlurnen aufbot, gab dies vielen Wählern gerade unter den entrechteten Kastenlosen erstmals den Mut, ihre Stimme abzugeben. Ein Jahr später schien sein Ende gekommen, als er zahlreiche Kandidaten aus dem Wahlkampf holte, die seinen Wahlkampf-Knigge mißachtet hatten. Doch die geballte Wut aller Parteien zerbröckelte, als es im Parlament zu einem Enthebungsverfahren gegen ihn kam. Die zwei zusätzlichen Wahlkommissare, mit denen die Regierung ihn neutralisieren wollte, wurden von dem mit allen Wassern der Bürokratie gewaschenen Seshan alsbald kaltgestellt.

Im vergangenen Jahr holte er zu einem weiteren Schlag aus: Er dekretierte, daß ab 1. Januar 1995 jeder Wähler und jede Wählerin eine Identitätskarte bei sich tragen müsse.

Bisher waren Wähler lediglich auf Wählerlisten eingetragen, was Fälschungen relativ leicht machte. Regierungen und Parteien hatten sich seit Jahren für Identitätskarten ausgesprochen, angesichts der logistischen Probleme aber immer wieder kapituliert.

Auch diesmal hagelte es Proteste: Es brauche viel mehr Zeit, um den Wählern bis in die entlegensten Dörfer nachzuspüren, die Frauen – ohne Schleier vor dem Gesicht – vor eine Kamera zu locken, und dann für Dutzende Millionen Menschen mehr oder weniger fälschungssichere Plastikkarten drucken zu lassen.

Selbst Seshan mußte inzwischen einsehen, daß sein Zeitplan zu ambitiös war und nicht auf alle sechs Staaten ausgeweitet werden kann, die in diesem Frühjahr ihre Landesparlamente wählen werden. In Bihar, dem rückständigsten Gliedstaat der Union, werden die Wähler keine Ausweise vorweisen müssen, obwohl gerade sie am meisten von Muskelmännern eingeschüchtert werden, die sich viele Politiker bei Urnengängen anheuern. Und in Orissa und selbst in Maharashtra und Gujerat, wo am morgigen Sonntag Landtagswahlen stattfinden, werden bei weitem nicht alle auf den Wahllisten eingetragenen Stimmbürger ihre Karten bekommen.

Seshan mußte sich auch für Übergriffe der Polizei entschuldigen, die bei den Personenkontrollen in Bombay jeden Muslim ohne Ausweis kurzerhand als illegalen Immigranten aus Bangladesch verdächtigte. Aber mit seiner Mischung aus Prinzipientreue und Sturheit hat er sichergestellt, daß die allgemeinen Wahlen 1996 bundesweit nur gegen Vorweis eines direkt überprüfbaren Ausweises über die Bühne gehen werden.

Um der geballten Phalanx aller politischen Parteien die Stirn zu bieten, braucht es jedoch mehr als den Flankenschutz der Verfassung und ein „himalajagroßes Ego“. Es bedarf vor allem der Unterstützung des Publikums. Diese äußert sich in Wäschekörben voller Fanpost oder auch in der Taufe von Neugeborenen auf den Vornamen „Seshan“ – ohne Zweifel ist Seshan heute die populärste Persönlichkeit Indiens.

Die Leute sind ihm vor allem dafür dankbar, daß die massive Einmischung durch Lautsprecher, das Bekleben der eigenen Hauswände mit Plakaten und die Blockierung der Straßen durch Wahlveranstaltungen ein Ende gefunden haben.

Die Anleitung spricht zwar nur eine Platitüde aus, wenn sie feststellt, daß „jeder Bürger das Recht auf ein ungestörtes Privatleben“ habe. Konkret heißt dies aber, daß ein plärrender Lautsprecher genügt, um die Wahllizenz eines Kandidaten zu annullieren. Und um ein Plakat an eine Hauswand zu kleben, muß der Kandidat das schriftliche Einverständnis des Hausbesitzers einholen.

Rund 150 Wahlbeobachter, von Seshan aus den Reihen der Kaderbeamten in Delhi ausgewählt, durchstreifen inkognito jeden Wahlkreis in Maharashtra und registrieren, bewaffnet mit Videokameras, jede Unregelmäßigkeit. Besonders lästig ist vielen Politikern die Hinterlegung der täglichen Ausgaben, die dem Kandidaten Shanti Swarup Pannalal zum Verhängnis wurde. Das Formular ist so umfangreich wie eine Steuererklärung, und jede Ausgabe von über zehn Rupien ist angabepflichtig. Mit charakteristischem Eigensinn erlaubte Seshan nicht einmal eine inflationsbereinigte Interpretation des Gesetzes – es stammt aus dem Jahr 1920.

Zwar hat heute jeder Kandidat das Recht, 150.000 Rupien für den Wahlkampf auszugeben. Aber dies ist ein Bruchteil der effektiven Wahlkosten: „Für das Provinzparlament betragen sie heute fünf Millionen Rupien“, schätzt Sadanand Varde, ein Ökonomieprofessor und früherer Abgeordneter aus Bombay. „Für einen Sitz in Delhi kostet es das Doppelte“ – umgerechnet immerhin 340.000 Mark.

Die hohen Kosten sind eine der Voraussetzungen für die weitverbreitete Korruption: Nach der Wahl melden sich die selbstlosen Wahlkampfhelfer und verlangen ihren Tribut – sei es in Form von Bauaufträgen oder anderen „Dienstleistungen“, sei es durch Zahlungsforderungen. Das wiederum zwingt den Politiker dann, jedesmal die hohle Hand zu machen, wenn ein Projekt seiner Unterschrift bedarf.

„Jeder Politiker“, sagte der Präsident der Hindu-Partei BJP, L.K. Advani, „beginnt seine Karriere mit einer Lüge, denn er unterschreibt eine Erklärung, nicht mehr als das vorgeschriebene Maximum ausgegeben zu haben.“

Auch wenn die Hydra der Korruption damit nur einen ihrer vielen Köpfe verloren hat, so hat das „Damoklesschwert namens Seshan“, wie sich ein Politiker in Bombay ausdrückte, dafür gesorgt, daß die Kandidaten plötzlich jede Ausgabe registrieren. Denn neben den Wahlbeobachtern werden auch die Wähler zu aufmerksamen Zeugen. Besonders der politische Gegner benützt jede Gelegenheit, um seinen Kontrahenten der Verletzung der Vorschriften zu bezichtigen.

Die BJP organisiert nun eigens Kurse für ihre Kandidaten, damit sie mit den Verhaltensrichtlinien zurechtkommen. Und die regierende Kongreßpartei legte ihren Kandidaten nahe, nur Ausgaben in der Höhe von 100.000 Rupien zu budgetieren, damit sie eine sichere Marge haben. Schließlich wissen selbst die Wahlkampfmanager nicht, wie hoch die Helikoptermiete für den Kandidaten anteilmäßig zu Buche schlägt, wenn sich Chefminister Sharad Pawar für eine Wahlveranstaltung einfliegen läßt.

Aber selbst viele Politiker sind dem Wahlkampfboß aus Delhi für die angelegten Zügel dankbar. Dies gilt vor allem für die Kandidaten kleiner Parteien, die sonst Mühe haben, sich zu behaupten. Eine von ihnen führt eine Flüsterkampagne durch: Ihre Helfer sprechen die Leute an, die auf den Bus oder den Zug warten.

Auch Politiker großer Parteien fühlen sich befreit, wenn sie wieder zu traditionellen Formen des Wahlkampfs zurückkehren können. In Parel, einem Arbeiterquartier von Bombay, sieht man statt der mit Lautsprechern bestückten Jeeps von Männern gezogene Handkarren durch die Straßen fahren.

Trommelwirbel statt Filmmusik zieht die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, und das Megaphon des Wahlkampfhelfers von Suryakant Desai, dem Kandidaten der „Shiv Sena“, trägt nicht viel weiter als die Musik des Muschelbläsers im Karren. Der hohle Ton der Muschel hat für Inder einen religiösen Klang, da sie auch in Tempelzeremonien gebraucht wird. Ihr Einsatz im Wahlkampf soll zeigen, daß die Shiv Sena eine hinduistisch- nationalistisch gefärbte Plattform vertritt. „Sie müssen aufpassen, daß Seshan das nicht sieht“, sagt ein Passant halb belustigt. Denn das erste Gebot von Seshans Wahlbibel lautet: „Kein Kandidat darf sich Äußerungen erlauben, welche das friedliche Zusammenleben religiöser oder ethnischer Gemeinschaften stören könnte.“

Sowohl Shiv Sena wie die große Hindu-Partei BJP haben ihre militante antimuslimische Rhetorik fast ganz zurückgenommen. Und die paar Plakate des „Supremo“ der Shiv Sena, Bal Thackeray, sind statt in hinduistischem Orange in tiefem Rot gehalten. Dafür prangt in allen Wohnquartieren von Bombay das Konterfei eines Mannes von den Hauswänden, der dem Zuschauer die offene Handfläche entgegenstreckt – die uralte religiöse Geste des „Fürchte dich nicht“. Das ausgemergelte Gesicht gehört Sai Baba von Shirdi, dem populärsten Heiligen von Maharashtra, dessen Geburtstag soeben gefeiert wurde – von Hindus ebenso wie von Muslimen.

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