: Das Bild der Stadt von sich selbst
Das Weimarer Feuilleton als Medium urbaner Selbstverständigung – Über eine neue Anthologie ■ Von Michael Bienert
„Hat Berlin existiert?“ lautet der Titel eines Feuilletons, das 1932 in der führenden Zeitung der Hauptstadt, dem Berliner Tageblatt, zu lesen war. Es erzählt von einer mongolischen Reisegesellschaft, die 5.000 Jahre nach unserer Zeit im Flugzeug über einer giftgasverseuchten Ebene kreist. Dort soll das legendäre Berlin gelegen haben, ein Ort, so sagenumwoben wie Troja oder Atlantis. Ob es wirklich existiert hat, darüber können sich die Reisenden nicht einigen. Sie tauschen wilde Spekulationen darüber aus, wie die Menschen in der verschollenen Metropole gelebt haben mögen.
Das Gedankenspiel des Feuilletonisten aus dem Jahr 1932 zu wiederholen, täte allen gut, die dem heutigen Berlin ihre Zukunftsvisionen aufzwingen wollen. Was angeblich für die Zukunft gebaut wird, ist so vergänglich wie das Vergangene. Warum also läßt man sich nicht Zeit mit dem Umbau der Stadt; reißt ab und baut zu, noch ehe man den Wert ihrer Substanz erfaßt hat? Wer weiß, ob die Nachgeborenen überhaupt beeindruckt, was heute geplant wird? Was ihnen einmal imponieren soll, werden sie wahrscheinlich häßlich und eitel finden, oder, schlimmer noch: langweilig.
„Berlin muß erst lernen, seine Eigenheiten zu erkennen. Jede bedeutende Stadt muß ihr eigenes Gesicht haben. New York hat seine Wolkenkratzer, Paris hat seinen Eiffelturm, London hat seinen Prince of Wales. Berlin hat seine Rasenflächen auf dem Potsdamer Platz. Und wenn man nur das richtige Verständnis und die richtige Einstellung hat, dann ist das eine nicht weniger viel wert als das andere.“
Diese Mahnung war 1926 in der Vossischen Zeitung zu lesen, kurz nach der Installierung der ersten, aus Amerika importierten Ampelanlage auf dem Potsdamer Platz. Damals schon sollte der Platz rundum ganz neu bebaut werden, mit einem Hochhaus (Haus Berlin) an eben der Stelle, wo jetzt Daimler und Sony weithin sichtbare Zeichen setzen wollen.
Die Würdigung der Rasenflächen auf dem Potsdamer Platz stammt von Marcellus Schiffer, die feuilletonistische Zeitmaschine von Hermann Rössler – zwei Namen, die auch LiebhaberInnen der zwanziger Jahre und ihrer Zeitungsprosa nicht unbedingt geläufig sind. Sie stehen für eine große Zahl unbekannter Texte und Autoren, die Christian Jäger und Erhard Schütz aus zerbröselnden Zeitungsbänden zwischen die Buchdeckel einer Anthologie gerettet haben. Manche der darin gesammelten Berliner Feuilletons aus den zwanziger Jahren lesen sich wie Spiegelungen unserer Gegenwart, doch die Absicht der Herausgeber geht weit darüber hinaus. Statt einer bloßen Blütenlese enthält diese Anthologie ein sorgfältig komponiertes Bild des damaligen Berlin.
Erwartungen, Hoffnungen und Kritik der Ankömmlinge in der Stadt, allen voran die Heinrich Manns, bilden die Einleitung. Texte über das „Berliner Tempo“ berichten von veränderten Wahrnehmungsbedingungen und Mentalitäten in der Großstadt. Entlang der Achse Halensee – Alexanderplatz rekonstruieren die Herausgeber die Topographie der Stadt mit ihre Brüchen und Ungleichzeitigkeiten. Texte über Cafés, Tanzlokale, Varietés, Kinos, Sechstagerennen, Boxkämpfe und Wochenendvergnügen zeigen das ganze Spektrum des großstädtischen Amüsierbetriebs. Die feuilletonistischen Fundstücke fügen sich dank der durchdachten Anordnung zu einem Panorama des Alltags.
Angesichts der vielen neueren Veröffentlichungen, die sich mit dem Berlin der zwanziger Jahre beschäftigen, wird man keine sensationellen Entdeckungen erwarten, im Gegenteil: Schnell fallen einem Lücken auf; es fehlen Texte über die Arbeitswelt, die proletarische Peripherie, Arbeitsämter und Obdachlosenasyle, über Orte politischer Auseinandersetzung wie den Bülowplatz oder den Reichstag. Es stimmt zwar, daß diese Bereiche im Feuilleton der bürgerlichen Blätter, auf die sich die Auswahl der Herausgeber beschränkt, unterbelichtet blieben. Doch es gibt Ausnahmen. Die Herausgeber hätten leicht auf wichtigere Texte Siegfried Kracauers zurückgreifen können, als auf den abgedruckten, und auch um Joseph Roths Bestandsaufnahmen der sozialen Peripherie hätten sie keinen Bogen machen müssen. Es wäre hingegen nicht nötig gewesen, vier Texte über das Scheunenviertel aufzunehmen, die es allesamt aus einer impressionistischen Außenperspektive schildern; das Israelitische Familienblatt und sogar die Neue Berliner Zeitung druckten sachkundigere Berichte.
Das wichtigste Verdienst der Sammlung besteht darin, daß das Berliner Feuilleton als Institution und Genre deutlicher sichtbar wird als in früheren Anthologien. Im Feuilleton wurden von Tag zu Tag Bilder der modernen Großstadt entworfen, reflektiert, modifiziert und gegen neue ausgetauscht. Es war der wichtigste Ort der Verständigung der Stadt über sich selbst, synchron mit ihrem beschleunigten Alltag und den rapiden Veränderungen im Stadtbild. Unmittelbarkeit und Spontaneität machen auch heute den Reiz der Lektüre aus: Der Blick ins Feuilleton ist ein Blick ins Kurzzeitgedächtnis Berlins. Man erlebt mit, wie die Stadt pausenlos Neues an sich entdeckt und versucht, es in ihr Selbstbild zu integrieren.
Die politische Polarisierung im publizistischen Streit um das moderne Berlin bildet die vorliegende Anthologie nicht ab. Dafür macht sie einen gemeinsamen Grundton hörbar, der die Autoren der liberalen Mitte miteinander verband. Ihre Nüchternheit und Sachlichkeit hat Karl Kraus den verspielten Wiener Feuilletonisten gelegentlich zur Nachahmung empfohlen. Die Auswahl zeigt, daß das Berliner Feuilleton nicht nur aus Einzelgängern bestand, sondern ein eigenständiges publizistisches Genre war. Die besten Stilisten der Epoche setzten die Maßstäbe, an denen sich auch der journalistische Nachwuchs orientierte.
Ob Berlin wirklich so existiert hat, wie die liberalen Feuilletonisten der Weimarer Epoche es entwarfen, bleibt eine offene Frage. Nachhaltiger als das wenige, was in der kurzen Phase der wirtschaftlichen Scheinblüte gebaut werden konnte, hat die literarische Überlieferung unser Bild von dieser Zeit geprägt. Das sollte denen, die heute versuchen, sich in Stahl, Glas und Beton zu verewigen, bewußt sein: Nicht die Bauwerke werden bleiben, sondern die Berichte darüber, mit wieviel Lust oder Unbehagen wir Berlin heute bewohnen.
„Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik“. Herausgegeben von Christian Jäger und Erhard Schütz. Fannei & Walz, Berlin 1994, 352 Seiten, geb., 38 Mark.
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