: Wachsende Furcht vor wuchernden Pilzen
■ Innere Pilzerkrankungen nehmen zu / Heilpraktiker machen Hefekeime für eine Fülle von Symptomen verantwortlich / Ärzte und Infektiologen warnen vor Hysterie
Julian Wilke* ist ratlos. Bei einer Kontrolluntersuchung stellte sich heraus, daß der Magen-Darm- Trakt des 37jährigen mit Keimen der Hefepilz-Gattung Candida besiedelt ist. „Seitdem erzählt mir jeder etwa anderes“, klagt Wilke. Aus Angst vor möglichen Nebenwirkungen nahm er das Antimykotikum, das der Arzt verordnet hatte, nicht ein und wandte sich an einen Heilpraktiker. Der verhängte eine strenge Diät: Zucker, Backhefen und Reis sind tabu. Jetzt leidet der Patient am meisten unter seinem schlechten Gewissen, weil er immer wieder nascht.
Innere Pilzerkrankungen (Endomykosen) gelten als neue Zivilisationskrankheit, Ratgeberbücher und Anti-Pilz-Diäten haben Konjunktur. Naturheilkundler machen die Hefekeime für eine Fülle von Symptomen verantwortlich, von Hautproblemen über Gliederschmerzen bis hin zu Müdigkeit und Vergeßlichkeit. „98 Prozent meiner Patienten haben Darmpilz, da gibt es einen gewaltigen Zuwachs“, sagt Harry Dobring von der Berlin-Brandenburger Heilpraktiker-Vereinigung. Ursache seien u.a. chemisch behandelte Nahrungsmittel, da sie das Immunsystem schwächten.
„Es wird viel Hysterie verbreitet, Pilzerkrankungen werden auf einmal für alles verantwortlich gemacht“, meint dagegen Kathrin Tintelnot vom Bundesministerium für Infektionskrankheiten und nichtübertragbare Krankheiten. Zwar beherbergen die meisten Menschen tatsächlich neben zahlreichen anderen Keimen auch Hefepilze der Gattung Candida, die 70 bis 80 Prozent aller Pilzerkrankungen verursacht. Der Körper wird damit jedoch in der Regel leicht fertig – um so leichter, je mehr auf ballaststoffreiche Ernährung geachtet wird. Eine Candida- Besiedlung von bis zu tausend Hefekeimen pro Gramm Stuhlprobe sei harmlos, betont Hannelore Bernhardt, Leiterin der Klinischen Mikrobiologie der Universität Greifswald. Nur wo die Körperabwehr versagt, können die Keime Infektionen hervorrufen – etwa im Scheidenmilieu der Frau. Im Extremfall gelangen die Hefepilze durch die Darmschleimhaut in den Blutkreislauf und breiten sich im ganzen Körper aus. Davon sind aber nur Patienten bedroht, deren Immunsystem schwer geschädigt ist, beispielsweise Aidskranke, Leukämiekranke und Menschen, die massiv mit Antibiotika behandelt werden.
Auch die Zunahme der Endomykosen – nach Hochrechnungen gibt es in Deutschland etwa 50.000 Mykose-Patienten pro Jahr – betrifft nur Risikogruppen. Ihre Ursachen sind nicht geklärt. Ein Faktor sind Antibiotika. Denn sie vernichten Bakterien und begünstigen so die Vermehrung anderer Keime. Für Kathrin Tintelnot bedingt auch die bessere medizinische Versorgung eine Zunahme von Mykosen: „Je länger Schwerkranke überleben, desto anfälliger werden sie auch für Pilzerkrankungen.“
Bei Patienten ohne erkennbares Mykose-Risiko sollte zunächst die Dauer einer erhöhten Candida- Besiedlung beobachtet werden, bevor antimykotische Medikamente eingesetzt werden, meint Professorin Bernhardt. Anti-Pilz- Diäten hält sie für sinnlos. „Für deren Wirksamkeit gibt es keinerlei wissenschaftliche Beweise.“ Zwar ernähren sich Hefen von Kohlenhydraten und Zucker. Im Körper wird Zucker jedoch schnell resorbiert. Was bis in den Darm gelangt, verwerten die 98 Prozent der Mikroorganismen im Darm. Sie sind vom Sauerstoff unabhängig. Hefepilze gehören aber zu den übrigen zwei Prozent. Genauso wirkungslos sei der Verzicht auf Backhefen, da diese Arten mit Candida überhaupt nichts zu tun haben. Eine einseitige Ernährung aus Pilzangst kann sogar schädlich sein, weil sie dem Körper Kohlenhydrate entzieht. Miriam Hoffmeyer
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