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Zur Sprechstunde bei Doktor He

Eine kleine Radtour im Norden Yünnans mit Abstecher zur wohlbekannten Kräuterklinik  ■ Von Christiane Hammer

Kopfschmerzen? Überreizte Nerven? Erkältung? Appetit- und Schlaflosigkeit, Depressionen oder Obstipation? Wir wissen nicht, was Dr. Best Ihnen da raten würde. Wir jedenfalls empfehlen wärmstens einen Besuch bei Dr. He Shixiu in seiner „Jade Dragon Snow Mountain Chinese Herbal Medicine Clinic“ in dem Dörfchen Baisha bei Lijiang, Autonomer Kreis der Naxi-Minderheit, Provinz Yünnan, im Südwesten der Volksrepublik China. Das ist im übrigen eine Gegend, die auch ohne die obengenannten Beschwerden durchaus einen kleinen Schlenker vom China-Trampelpfad wert ist.

Wie man hinkommt? Zum Beispiel von Kunming, der „Stadt des ewigen Frühlings“ am Dianchi- See, mit dem Video-Bus in einer Tagesetappe auf der legendären „Burma road“ zuerst in den etwa 400 Kilometer entfernten, schön restaurierten Hauptort des uralten Bai-Königreiches Dali am Erhai- See mit seinen malerischen Kormoranfischern und von da aus im klapprigen „local bus“ am See entlang und über einige kleinere Pässe nach Lijiang, Ankunft am frühen Nachmittag. Von Nordosten, aus der Provinz Sichuan, geht's aber auch: beispielsweise nach einer fünftägigen Kreuzfahrt durch die Schluchten des Yangtse (solange es sie noch gibt!) hinauf bis nach Chongqing, dann weiter per Bahn über Chengdu, den heiligen Berg Emei Shan und den Riesenbuddha von Leshan bis zur kleinen Bahnstation Dukou/Panzhihua („Kletterpflanze“), von wo es per „local bus“ in schlappen zehn Stunden hinüber in die Provinz Yünnan geht, auf spitzkehrigen Paßstraßen mit phantastischen Einblicken in die Schluchten des Jinshajiang („Goldstaubfluß“) und deren unzugängliche Terrassenfelder an den unmöglichsten Hängen, haarsträubende Beinahe- und Tatsächlich-Unfälle inklusive.

An diesem Tage will und will die Sonne nicht hinter dem jagenden Wolkengrau hervorkommen, die schnurgerade Militärstraße von Lijiang am „Elefantenberg“ vorbei in Richtung Paßhöhe des bis zu 5.596 Meter hohen „Jadedrachen- Schneegebirges“ (dort fängt das Sperrgebiet an, denn dahinter geht's direkt nach Tibet) will und will mit ihrer garstigen kleinen Steigung einfach kein Ende nehmen. Da heißt es kräftig in die Pedale der schweren chinesischen Räder zu treten und den lahmen Enten, Marke „Flying Pigeon“, die Sporen zu geben. Welche dieser Baumgruppen, in schwer einschätzbarer Distanz aus dem alpinen Gestrüpp hervorragend, markiert denn nun endlich das Örtchen Baisha mit seinen verfallenden Tempeln aus der mingzeitlichen Eroberungsphase durch die Han-Chinesen, wo heutzutage der allseits bekannte Kräuterdoktor He Shixiu praktiziert. Der Weg scheint endlos, die Reiseführer allzu sorglos mit ihren Angaben: 3 bzw. 15 Kilometer Entfernung von Lijiang stehen zur Auswahl. Schließlich taucht das Nest doch auf, noch ungefähr 3 Kilometer abseits der Teerstaße. Los also, zum Endspurt über Feldwege.

Auf der „Hauptgeschäftsstraße“ des Fleckens herrscht gerade morgendlicher Hochbetrieb, Hühner, Schweine und rotznasige Schulgören drängeln sich um Schlammlöcher herum oder stapfen mittendurch, vorbei an dem wie in einer Westernstadt unter Holzarkaden aufgereihten halben Dutzend Lädchen hinter verblichenen Holzfassaden, um irgendein Zuckerli zu erstehen oder auch einfach nur aus purer Neugierde. Als die ersten Fremden des Tages werden wir allgemein bestaunt und insofern auch von Dr. He in seinem weißen Kittel mit dem Rotkreuzabzeichen und einem roten Ahornblatt-Anstecker am Revers schon weit vor seiner hölzernen Miniaturpraxis in Empfang genommen – der Mann findet seine Kundschaft, keine Sorge also darum.

Wache Kinderaugen mit großen Tränensäcken, ein Ziegenbärtchen, das inzwischen noch länger geworden ist als auf den zahllosen Fotos in seinen Alben, die er uns alsbald vorführt, ein weißes Medizinerkäppchen auf dem schütteren Haar – so schleppt uns der agile Siebzigjährige mit sich, seine Gäste wortreich umgarnend. Er läßt Tisch, Bänke und Teetassen vor seiner mit Naxi-Hieroglyphen und in chinesisch beschrifteten „Jade Dragon Snow Mountain Chinese Herbal Medicine Clinic“ aufbauen und von der Schwiegertochter dazu gleich seinen weltberühmten Kräutertee gegen alles und jedes servieren, ein grüngelbes Gebräu, das sich, weil zumindest aromatisch, ohne allzu große mimische Verrenkungen, dafür – schließlich sind wir in China – unter um so mehr Dankesbezeugungen tatsächlich auch trinken läßt.

Ob wir wollen oder nicht, Dr. He hetzt nun mit uns in seinem grammatisch etwas seltsamen, wenngleich durchaus flüssigen Englisch durch seine umfangreiche Korrespondenz aus aller Welt – lauter ehemals Mühselige und Beladene, die er zu dankbaren Rekonvaleszenten gemacht hat. So steuerte Sir Angus Ogilvie, seines Zeichens Fotograf und weitläufiges Mitglied der gebeutelten Royals, offizielle Fotos aus besseren Tagen des britischen Königshauses bei, und Bruce Chatwin, der früh verstorbene Kult-Autor des sensiblen Alternativ-Reisens und bereits 1981 Gast bei Dr. He, hinterließ handschrifltich seine damalige Adresse am feinen Londoner Eaton Place. Daneben die diesen Besuch dokumentierende Passage aus seinem lesenswerten Reportageband „What am I doing here?“ (auch auf deutsch, als rororo-Taschenbuch), die in unzähligen Guidebooks zitiert und hier natürlich ebenfalls archiviert wurde. Da auch eine ehemals Berliner Sinologin und ein ibidem Reiseführerautor ihre Visitenkarten in der Sammlung hinterließen, ziere ich mich nicht länger und tue es ihnen in putativer Notwehr angesichts der unvermeidlichen Bitten von Dr. He gleich. Nun bin ich eine von den zahllosen anderen, die, in roten Plastikhüllen und zerfledderten Schulheften, fein säuberlich nach Nationen getrennt, sozusagen in effigie der nächsten Präsentation vor staunendem Publikum harren.

Mit an Besesenheit grenzendem Eifer führt Dr. He neben all seinen Fotos bei einer weiteren Kanne Tee dann auch noch die vielen in Mappen gesammelten Artikel über ihn und seine Klinik aus bunten Reisemagzinen von Kreditkartenanbietern und Wochenendbeilagen der Weltpresse vor, vom Guardian bis zur New York Times; das ZDF war auch schon mal da. Er wirkt dabei wie ein Getriebener, seine Augen irren unruhig umher, forschen, was auf der Hauptstraße vor sich geht, ob nicht mittlerweile noch mehr Touristen einzufangen sind, denen er seine Wohltaten und Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der traditionellen chinesischen Kräutermedizin nahebringen kann. Es hat den Anschein, als könne er nur so die in den chaotischen Jahren der maoistischen Kulturrevolution erlittenen Demütigungen kompensieren.

Denn damals, soviel läßt er sich durch hartnäckig-fragendes Einbrechen in den eingeübten Redefluß mühsam entlocken, wurde der polyglotte Mediziner mit seinem Diplom der Universität Nanking noch aus der Zeit der nationalistischen Kuomintang-Republik seiner westlichen (Aus-)Bildung wegen von den Roten Garden als Intellektueller zur Knochenarbeit auf den Äckern seines Heimatdorfes gezwungen, seine Familie in Sippenhaft genommen. Er streift dieses dunkle Kapitel nur kurz, scheint es vergessen und begraben zu wollen unter all den Reiseführerberichten und schriftlichen Lobhudeleien seiner Besucher und „Freunde“ aus aller Welt und scheint dabei doch kaum mehr unterscheiden zu können, wer er selber ist und was das Klischee von ihm, dem er weder entrinnen kann noch es überhaupt will. So ist Dr. He Shixiu auf seine alten Tage noch einmal, diesmal freiwillig, zum Gefangenen geworden – Gefangener nicht der außer Kontrolle geratenen Jugendhorden der späten Sechziger, sondern der Touristen von heute und all jener, die sich seiner wieder und wieder schriftlich annehmen, ihm so endlich die langentbehrte Selbstbestätigung verschaffend. Wir beginnen zu frösteln, nicht nur, weil ein aufkommender Wind aus den Bergen baldigen Regen verheißt.

Doch der Alte läßt keine Grübeleien zu, er weiß seine Zeit zu bemessen, mehr als ein Stündchen opfert er den Vorüberkommenden nicht. Pflichtschuldigst stellt er freilich noch die Frage nach etwaigen Wehwechen, für bzw. gegen die er seine zu Pulver vermahlenen Kräuter, die er alljährlich im Sommer zusammen mit seinem Sohn auf ausgedehnten Touren in die Vorberge des Himalaya im nördlichen Yünnan erntet, zusammenmixen kann. Ein kurzes Pulsfühlen verbunden mit der Frage nach Alter und Kinderzahl („None? How wonderful!“), und er nimmt in seinem mit Büchern und Dosen vollgestopften Holzbüdchen zielsicher ein Löffelchen von diesem, ein auf der Apothekerwaage bemessenes Häufchen von jenem Pulver, vermischt beides, packt eine Musterdosis in altrosa Packpapier und den Rest in eine rasch gefaltete Tüte aus einer vergilbten Volkszeitung, drückt ihr noch eben seinen Approbationsstempel auf – und fertig ist die als Tee zu trinkende, garantiert wirksame Medizin gegen Migräne. Die individuelle Zusammenstellung vermerkt er für etwaige Nachbestellungen unter dem jeweiligen Namen in einer seiner zahllosen Kladden. Für alle Fälle bringt Dr. He mir aber auch noch drei Handgriffe zur Kopfmassage bei, man kann ja nie wissen. Meine britische Begleiterin erhält eine identisch aussehende und riechende Currymischung, nur diesmal soll sie, nach Auflösen in reinem Alkohol, als Tinktur gegen arthritische Beschwerden nach einem längst verheilten Knochenbruch helfen. Lang lebe die chinesische Homöopathie und ihr unermüdlicher Propagandist!

Ein paar Fotoposen gewährt uns der Kräuterdoktor noch, ein Obolus nach Belieben wird dankend angenommen, doch dann ist die Audienz beendet. Freundlich, aber bestimmt werden wir von ihm auf den holprigen Pfad zu dem kleinen Lama-Kloster Yufeng der Karmapa-Rotmützensekte mit seinem steinalten, duftschweren Kamelienbaum und den 10.000 Blüten zwei Weiler weiter am Hang komplimentiert. Vergelt's Gott und guten Weg – Dr. He muß seine Kräfte sammeln für die nächsten Besucher, die auch an diesem Tage bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lassen.

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