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Recht über das Leben

■ „Auf frischer Tat“ im Forum

Vierzehn auf frischer Tat ertappte Angeklagte hat der französische Dokumentarist Raymond Depardon bei ihrer ersten Vernehmung begleitet. Der Film schildert den Ablauf des Gerichtsverfahrens von der Ankunft der Angeklagten im Pariser Justizpalast bis zum ersten Gespräch mit dem Staatsanwalt. Depardon beschränkt sich in seinem Film auf kleine Delinquenten: Taschen- und Kaufhausdiebe, Hütchenspieler, Graffitisprayer, Drogensüchtige, Autodiebe, prügelnde Ehemänner, junge Männer, die Bullen beleidigt, und Flüchtlinge, die gegen das Aufenthaltsgesetz verstoßen haben.

Vor ihren durchaus ironiefähigen Staatsanwälten sind einem die meisten von ihnen recht sympathisch. Wahrscheinlich, weil sie als gefaßte Täter zu Opfern werden, die ihre Situation nicht mehr selbst bestimmen, sondern über die bestimmt und entschieden wird, und weil Justiz notwendig immer auch Klassenjustiz ist.

Komisch werden die Gespräche, wenn die amtlichen Vorstellungen der Staatsanwälte über Recht und Gesetz auf die individuellen Vorstellungen der sozial meist deklassierten Delinquenten stoßen, denen ihr Handeln selbstverständlich war – oder Ausdruck individueller Not, wenn es nur darum ging, Essen für die Familie zu besorgen. Anrührend raffiniert der alte Hütchenspieler, der nebenbei auch Polizeispitzel ist, wenn er der unbeeindruckten Staatsanwältin ein „Schönes Neues Jahr“ wünscht; charmant erscheint einem plötzlich der Mann, der seine Frau geschlagen hat und seine Vernehmerin erfolglos davon zu überzeugen will, daß er sich nur gewehrt hätte; sympathisch die drogensüchtige, HIV-positive Autodiebin, wenn sie zwischen verschiedenen Versionen ihres Deliktes schwankt und begeistert den rührenden Verteidigungsvorschlag ihres Pflichtverteidigers nachspricht. Selbst die Staatsanwältin wird sympathisch, wenn sie einer uneinsichtigen Kleiderdiebin ein bißchen fassungslos nachruft: „Ich lasse Sie frei, und Sie wollen sich umbringen.“ Traurig wird man nur bei den verzweifelten Geschichten zweier Flüchtlinge, denen die Ausweisung droht.

In einem kargen, zehn Quadratmeter großen Raum wird über Lebensschicksale bestimmt. Irritierend ist nicht nur, daß die Delinquenten bei ihrem ersten Verhör nicht viel anders sprechen, als man es aus Gerichtssälen kennt, irritierend ist auch, daß die meisten das Recht der Justiz, über ihr Leben zu entscheiden, anzuerkennen scheinen. kuhl

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