: Eine Amerikanerin in Berlin
New York Times und dieser Zeitung, aber noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Vielleicht verschwindet die Tüchtigkeeit ja bloß ab und zu. Aber was haben wir von unzuverlässiger Präzision?
Einerseits: als mein Presseausweis aus der Handtasche verschwand, wurde das Personal der Kongreßhalle sofort fündig — und das ein ein großes Gebäude mit mehreren Ausstellungsräumen. Sie hatten ihn zwischen dem herumliegenden Papier gefunden und im richtigen Büro abgegeben, wo man mir bereits eine Benachrichtigung in mein Pressefach gelegt hatte. Vermutlich hatten sie außerdem die New Yorker Zulassungsbehörde angerufen (falls ich auch meinen Führerschein verloren hatte), die Versicherungsgesellschaft (wegen meiner Versicherungskarte), und wohl auch meine Mutter.
Andererseits: Heute morgen lief mir auf der Kurfürstenstraße ein Häufchen Hundekot über den Weg. In London, Paris oder New York kann man das ja noch akzeptieren, aber nicht im Vaterland. Mehr habe ich nicht zu sagen.
Ich weiß nicht, was mich mehr in Verwirrung versetzt hat: die unhaltbaren Zustände in der Kurfürstenstraße — oder daß ich heute morgen im Frühstücksraum des Hotels die einzige Frau war und trotzdem kein einziger Mann mir einen Blick gönnte. Meinen schönen Geist liebe ich schon selbst. Dafür brauche ich keinen anderen.
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Auch über Richard Linklaters „Before Sunrise“ ist die Entscheidung noch nicht gefallen. Soll man diesen Film — mit den kombinierten Herrlichkeiten von Julie Delpy und Ethan Hawke — nun lieben oder scheußlich finden? Ich halte ihn für Rohmer ohne Eric, aber die hochgestochenen Kritiker in New York liebten ihn, weil hier noch weniger passierte als in Rohmers Produkten.
Foto: Christian Schulz
Gefallen ist die Entscheidung, wie ich glaube, über Michael Winterbottoms „Butterfly Kiss“ (Wettbewerb) — da hielt es anscheinend irgend jemand für eine tolle Idee, „Heavenly Creatures“, „Thelma & Louise“ und „Natural Born Killers“ miteinander zu kreuzen. Amanda Plummer spielt eine lesbische, kettenbehangene, bibelzitierende Serienmörderin mit Sicherheitsnadeln in den Brustwarzen; Saskia Reeves ist die Nummer zwei in einer folie a deux, die für andere und schließlich auch für sie selbst tödlich endet. Viele Zuschauer sprachen sich gegen die Gewalt des Films aus, anderen mißfiel, wie besessen der Film von Obsessionen war. Mich ärgerte lediglich, daß der Film nicht einfach „Lesbierinnen in Ketten“ hieß oder noch einfacher „Im Käfig“.
Obwohl „Natural Born Killers“ viel gewalttätiger ist als „Butterfly Kiss“, ist er mir lieber — wegen seiner Ehrlichkeit. Die Menschen haben schon seit ihrer Affenzeit Spaß an Blutvergießen. Bilder der Gewalt vermitteln den Zuschauern ein Gefühl der Geborgenheit: man kann mit dem Schrecken spielen und sich trotzdem in seinem Sitz in Sicherheit wiegen. Um dieses Vergnügens willen sind Generationen mit Kindern und Picknick-Korb zu Gladiatoren gezogen, zu Galgen, Guillotinen und Geißelhieben. Sie haben den verstümmelten Mann am Kreuz verehrt. Mit seinem Abfalleimer voll gewalttätiger Bilder huldigt „Natural Born Killers“ dieser Seh-Lust und gibt Zuschauern die Gelegenheit, ihr Vergnügen auszuleben — ganz besonders in einem Amerika, das sich in den Fängen der Political Correctness windet.
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Von den sechs Morden in „Butterfly Kiss“ bleiben drei unsichtbar und die anderen drei dauern insgesamt bloß 45 Sekunden. Man denke zum Vergleich an Zahl und Dauer von Morden in Filmen wie „Taxi Driver“, „Good Fellas“, irgendeinem der „Paten“-Filme und Kriegsfilmen wie „Platoon“ oder „Killing Fields“. Hätten sich die Zuschauer über die Gewalt in „Butterfly Kiss“ auch dann so aufgeregt, wenn sie nicht von Frauen begangen worden wäre? Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning
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