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Die Münzen des wahren Glaubens

Mit der Menschheit liegt irgendwas im argen. Doris Lessing hat ihre Autobiographie geschrieben und scheut dabei weder das große politische Resümee noch die Küchenpsychologie  ■ Von Anke Westphal

Memoiren schreiben ist schwierig. Da stand man einst dieser oder jener Person nahe, will aber nicht tratschen. Da hat man gute wie schlechte Zeiten im Laufe der Jahre von einer gnädigen Erinnerung überformen lassen oder einfach vergessen. „Wir sehen das Leben in jeder Phase unterschiedlich, wie beim Bergsteigen, wo sich die Landschaft mit jeder Wegbiegung verändert“, schreibt Doris Lessing im ersten Band ihrer Autobiographie „Unter der Haut“ und setzt gleich fort, „daß man seine Vergangenheit erfindet“. Eine Autobiographie folgt Fragmenten und setzt sie, je nach Psyche und Pietät des Verfassers, zusammen. Schon ist die Wahrheit futsch.

Doris Lessing kennt das Dilemma und widmet ihm gleich ein ganzes Kapitel. Die 1919 geborene Autorin hält es mit Simone de Beauvoir, die „bei einigen Dingen“ gar nicht die Absicht hatte, die Wahrheit zu sagen. Wozu, fragt man sich, begibt sich Lessing dann überhaupt in die Vergangenheit? Lessing rechtfertigt diesen ersten Teil ihrer Autobiographie mit pragmatischen Gründen. Zum einen wollte sie die komplizierten Zusammenhänge ihres Lebens vor den Interpretationen ehrgeiziger Biographen retten. 1992, bevor Lessing überhaupt ans Schreiben dieser Autobiographie dachte, hatten sich schon fünf von ihnen angekündigt. Die Verbitterung darüber, „daß unser Leben uns nicht gehört“, und das Bedürfnis nach „Selbstschutz“ müssen ein gewaltiger Antrieb gewesen sein, um mit nur 30 Lebensjahren stattliche 520 Seiten zu füllen. Zum anderen wollte Lessing, ganz sozialhistorisch, die letzte Phase der britischen Kolonialherrschaft in Afrika dokumentieren und einen „Generationenroman“ schreiben. So stapft der Leser anfangs auch sehr gemächlich durch Familiengeschichte. Die Ahnengalerie zeigt erst ein viktorianisches, dann ein edwardianisches Panorama. Totgeschwiegene und umjubelte Verwandte defilieren vorbei, eine Familie von „Pfarrern und Bankangestellten“, „very english“. Doris Lessing macht die nicht eben spannende Angelegenheit zu einer skeptischen Bestandsaufnahme. Ihr letzter Kommentar ist ein „So lautete ihre Version“. Wenn sie über das Trauma des Ersten Weltkrieges sinniert, hält sie die 29 Millionen in keinem Geschichtsbuch erwähnten Grippetoten von 1919 für ebenso wichtig. Lessing sucht „Schattenhaftes“ und meint die ungeschriebene Geschichte.

Kein historisches, kein soziologisches Dogma läßt sie unangezweifelt. Einmal fragt sie, ob sich die Welt mit Musik vergiftet und die Kriminalität erst mit der Rockmusik so zugenommen hat: „[...] ich bin mir bewußt, daß ich mich mit dieser Hypothese der Lächerlichkeit preisgebe“, räumt sie ein. Diese Küchenpsychologie kommt einem zwar reichlich kurios vor, ihre Exzentrik fesselt aber dennoch. Lessing behandelt ihre eigenen biographisch-ideologischen Schlenker als stellvertretend für den „Zeitgeist“ der dreißiger und vierziger Jahre. „Zeitgeist“ – für Lessing wird der Begriff zum zentralen Ersatz für ein schwer zu bezeichnendes, weil schwer durchschaubares Zusammenspiel von Ideologie und Psychologie im Leben.

Doris Lessing wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern wanderten 1925 in die Kolonie Südrhodesien aus, um dort ihr Glück als Farmer zu versuchen. Der Traum vom Wohlstand erfüllte sich nicht. Mit 15 verließ Doris Schule und Elternhaus. Noch die Erwachsene machte der Besuch der Mutter krank. Lessing schlug sich als Schreibkraft durch, erlebte nächtliche Leseorgien, Liebesaffären – Stoff für frühe Erzählungen und Romanversuche. Die erste Ehe mit einem Beamten scheiterte. Lessing ließ Mann und zwei Kinder zurück, um sich Anfang der vierziger Jahre „wegen des Zeitgeistes“ den südrhodesischen Kommunisten anzuschließen. In der Rückschau handelt es sich um einen intellektuellen und fanatischen Lesezirkel, der Propagandamaterial über die „gute Sowjetunion“ verteilte. Mehr als zwanzig Jahre stand Doris Lessing den Kommunisten nahe, und ihre Autobiographie belegt über weite Strecken nichts weniger als den Verlust „der Münzen des wahren Glaubens“. „Von Marx über Freud zum Schamanismus“, spottet sie. Es sind politische, keine schöngeistig-ästhetischen Erinnerungen geworden, Bekenntnisse einer desillusionierten Renegatin. Sarkastisch und vage fällt das politische Resümee im Winter von Lessings Leben aus: „Vergeben Sie mir die Banalität dieses Gedankens, aber mit der Menschheit liegt irgend etwas sehr im argen.“

So unnachsichtig, wie Doris Lessing gegen die eigene politische Erlösungsgläubigkeit wettert, so hilflos steht sie der Gegenwart gegenüber. Äußern muß sich die ewige Beiträgerin dennoch – über die „tagtägliche Unbarmherzigkeit des Lebens selbst, dieses bitterbösen Satirikers“, das sie jetzt der Politik überordnet. „Wenn die Menschen so dumm sind, wie wir es sind, was bleibt uns als Hoffnung?“, so resümiert sie mit einem Beigeschmack von Vergeblichkeit im Blick auf zwei Weltkriege und den Krieg in Ex-Jugoslawien. Geschichte wiederholt sich unendlich und grausam. Dauerhaftes Glück ist der Menschheit nie versprochen worden, und weil Doris Lessing das erkannt zu haben meint, präsentiert sich in diesen Memoiren eine lakonische alte Frau von „verächtlicher Heiterkeit“. Eine Ex- Radikale, die Respekt für konventionelle Ansichten fordert. Eine Frau, die gegen das Verschwinden der Frauen aus der Geschichte anschrieb und sich jetzt auf deren biologische Bestimmung beruft. Eine Individualistin, die von allgemeingültigen Erwartungsmustern spricht, die jedes Leben prägen.

Den Anspruch, das „eigene Leben leben zu wollen“, findet Doris Lessing heute kindisch. Nein, diese Frau bedient keine politische Korrektheit. Doch ihre vitale Boshaftigkeit, ihre skurrilen und nüchternen Ratschläge kommen einem ehrlicher vor als alle Altersweisheit. Anke Westphal

Doris Lessing: „Unter der Haut. Autobiographie“. Aus dem Englischen von Karen Nölle-Fischer. Hoffmann und Campe 1994, 528 Seiten, Fotos, gebunden, 48 DM

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