: Die „ausländische Krankheit“
Seit den dreißiger Jahren gilt Homosexualität in Rußland als Folge westlicher Dekadenz. Die Parole „Vernichten wir die Homosexualität, und der Faschismus wird verschwinden“ brachte viele Schwule in den Gulag ■ Von Jaroslaw Mogutin
Am 17. Dezember 1933 wurden jede Art von geschlechtlichem Kontakt und Analverkehr zwischen „einverständigen Personen männlichen Geschlechts“ in der UdSSR zu einer kriminellen Handlung. Am 1. April 1934 wurden in Paragraph 154 (später 121) nachträglich Strafandrohungen bis zu fünf Jahren Gefängnis festgelegt. Zur Zeit macht unter den Schwulen in Moskau die Theorie die Runde, daß der Adoptivsohn des damals führenden proletarischen Schriftstellers Maxim Gorki von einem Schwulen verführt worden war und daß Gorkis Reaktion darauf eine persönliche Petition an Stalin war, der dann für das formale Verbot sorgte.
Am 31. Mai 1934 erschien sowohl in der Prawda als auch in der Iswestija ein Artikel von Gorki, worin er Homosexualität zu einem Resultat übler bourgeoiser Einflußnahme aus dem Westen und gar des deutschen Faschismus erklärte, wobei seine denunziatorische Sprache an die der politischen Prozesse erinnert. Der Schlußsatz des Artikels lautet: „Vernichten wir die Homosexualität, und der Faschismus wird verschwinden!“
Gorki bediente sich eines bis heute gültigen Stereotyps: Schwul sein ist eine „ausländische Krankheit“ und gewissermaßen unrussisch. Er ignorierte bewußt eine Tatsache, die ihm gewiß nicht verborgen geblieben war, daß nämlich die brutale Repression der Homosexuellen in Nazi-Deutschland sich in parallelen Ereignissen in der Sowjetunion spiegelte.
Artikel 154 wurde schnell zum Unterdrückungsinstrument gegen politische Dissidenten. Im Januar 1934 wurden in den wichtigsten Städten der Sowjetunion massenhaft Homosexuelle verhaftet, unter ihnen viele Schauspieler, Musiker und andere Künstler. Historiker verweisen auch auf die sprunghaft steigenden Selbstmorde unter Angehörigen der Roten Armee.
1936 erklärte der „Volkskomissar für Gerechtigkeit“, Nikolai Krylenko, Homosexualität per se zum politischen Verbrechen gegen den Sowjetstaat und das Proletariat. Es kam zu Untersuchungen des KGB, vermutlich auch im Hinblick auf Rekrutierung von Informanten unter denen, die als Homosexuelle bekannt waren.
Mitte der dreißiger Jahre brach der Strom homosexueller Häftlinge in die sowjetischen Lager kaum ab und blieb in all den Jahren, in denen Paragraph 121 in Kraft war, konstant. Alexander Solschenizyn nannte diesen Paragraphen einmal ein „schmutziges Stück Gesetz“. Aber in seinem „Archipel Gulag“, das all jenen gewidmet ist, „die nicht lang genug überlebten, um ihre Geschichte zu erzählen“, findet man nicht ein Wort der Sympathie für die homosexuellen Häftlinge. Die meisten Schriftstellerdissidenten, die von den unmenschlichen Bedingungen des Lagerlebens berichtet haben, sind sich mit der Lagermehrheit darüber einig, daß Schwule im Lager und Homosexuelle im allgemeinen nichts als Verachtung verdienen. Selbst als schon aus bis dahin noch geheimgehaltenen Quellen mehr und mehr Einzelheiten der stalinistischen Repression bekannt wurden, war nicht ein Menschenrechtsaktivist, weder in der UdSSR noch im Exil, bereit, sich hiermit ernsthaft auseinanderzusetzen. Dabei ist das Ausmaß der Tragödie der Homosexuellen in sowjetischen Gefängnissen und Lagern ungeheuerlich. Immens war nicht nur die Zahl der Häftlinge, sondern auch die Brutalität, die sie ertragen mußten. Das Sowjetsystem versagte nicht nur darin, die „ausländische Krankheit“ zu heilen, sondern es gab sogar ein „Anwachsen“ der homosexuellen Bevölkerung: In großer Zahl wurden Menschen, die mit Homosexualität nichts zu tun hatten, zu opuschtschennje (Gefallene, Verworfene; beziehungsweise Slang für jemanden, der zusammengeschlagen und bepißt wurde).
In seinem 1979 in Jerusalem erschienenen Buch „Der mordowinische Marathon“ widmet Eduard Kusnetsow ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Andersrum“ den Homosexuellen im Lager. „Leute, die es wissen müssen“, schreibt er da, „behaupten, daß neunzig Prozent aller Häftlinge homosexuell sind. Aber nur die sogenannten passiven Schwulen – etwa zehn Prozent – werden als solche angesehen. Man nennt sie kosly (Böcke oder Freier) und petuki (Schwule). Sogenannte aktive Homosexuelle sind derart häufig, daß man nicht einmal eine besondere Bezeichnung für sie hat.“
In seinem Buch „Aufzeichnungen eines Dissidenten“ (Ann Arbor, 1982) schreibt Andrei Amalrik: „Passive Homosexuelle sind nicht unbedingt Häftlinge mit schwulen Neigungen. Es sind die Schüchternen, Zurückhaltenden, diejenigen, die beim Kartenspiel verlieren oder die auf irgendeine Weise die ungeschriebenen Gesetze des Lagers gebrochen haben. Wem erst einmal der Ruf anhängt, ein ,Schwanz‘ zu sein, wird ihn nie wieder los. Und selbst wenn einer durch einen Transport woanders hinkommt und sich natürlich nicht selbst als ,Gefallenen‘ präsentiert, kommt es früher oder später heraus. Unvermeidlich ist dann seine oft kollektiv vorgenommene Bestrafung, die nicht selten mit dem Tod des Betreffenden endet.“ – Der erste verurteilte Homosexuelle, der über die Situation berichtet hat, war der Leningrader Schriftsteller Gennadi Trifonow. Im Dezember 1977 schrieb er den folgenden offenen Brief an die Literaturnaya Gazeta aus dem Lager 398/38 im westlichen Ural:
„Ich habe jeden nur möglichen Alptraum und Schrecken erlebt [...]. Wir leben ein halbtierisches Leben, verurteilt zum Hungertod; wir träumen heimlich von tödlichen Krankheiten, nur damit wir einmal ein paar Tage auf einer Pritsche in der Krankenbucht ausruhen können.
Ich habe Menschen kennengelernt, die ihr Entlassungsdatum schon lange vergessen haben, andere haben nicht lange genug gelebt, um es bis dahin auszuhalten. Ihre Körper hat man von den Hochspannungszäunen gepflückt, oder man fand sie erhängt in ihren Zellen, zu Tode gefoltert von ihren Mitgefangenen, die sich wie Tiere benahmen, oder von wahnsinnigen Wächtern zu Tode geprügelt. Ich weiß ihre Namen, ich kann schriftliche Zeugnisse bekommen. In den anderthalb Jahren in dieser Hölle habe ich die Fälle von 22 in der Sowjetunion wegen Homosexualität Verurteilten sorgfälig studiert. Wenn diese Informationen in den Westen gelangen, wird man mich wegen Verleumdung anklagen und liquidieren. Das ist einfach. Man braucht mich nur einer Gruppe von Mitgefangenen, denen nichts Menschliches mehr anhaftet, auszusetzen und muß dann nur noch ein Dokument ausstellen, auf dem mein Tod ,unter den üblichen Umständen‘ festgestellt wird.“
Trifonows Brief wurde in der Sowjetunion nie veröffentlicht. Sobald jedoch sein Name im Westen bekannt wurde, behandelten ihn die Verantwortlichen des Lagers mit mehr Vorsicht...
Pawel Masalsky aus Moskau, ein durchschnittlich großer Mann mit kurzgeschnittenen Haaren, ungefähr Mitte dreißig, wurde 1984 zusammen mit seinem Freund verurteilt. Bis dahin war sein Name nur in den Akten der Spezialabteilung bei der Miliz geführt worden, die für den Kampf gegen Homosexualität gebildet worden war. Dort liefen alle Informationen über die Schwulen von Moskau zusammen. Pawel erzählt, wie Polizisten dieser Abteilung ihn und andere Männer durch Erpressungen und Drohungen zu sexuellen Handlungen mit ihnen zwangen. Diese Spezialabteilung hat es noch bis vor kurzem gegeben, wo die Akten geblieben sind, die sie angesammelt hat, ist unbekannt.
Um Pawel und seinen Freund hinter Gitter zu bringen, genügte die Denunziation eines Nachbarn. Man machte sich nicht einmal die Mühe, Beweise für „homosexuelle Betätigung“ zu erbringen, wie das in der Regel der Fall ist. Die Gerichtsverhandlung war, wie fast alle in der Sowjetunion, die mit „sexuellen Verbrechen“ zu tun haben, nicht öffentlich. Nach Anhörung von Pawel und seinem Freund wurden sie in getrennte Gefängnisse transportiert. Nach neun Monaten schickte man Pawel in ein Lager, in dem von 1.500 Männern etwa 200 als opuschtschennje kategorisiert waren.
„In unserer Zone wohnten die petukhi mit allen anderen zusammen, nur wir hatten einen separaten Tisch, extra Besteck und einen speziellen Platz zum Schlange stehen: ganz hinten. Die Verwaltung behandelt die opuschtschennje genauso wie die politischen Gefangenen: Man hilft ihnen möglichst nicht und gibt ihnen nie einen der besseren Arbeitsplätze. Manchmal verlegen sie einen, wenn sie sehen, daß er über jedes Maß hinaus gequält wird. Mich behandelte die Verwaltung schlimmer als die anderen. Sie fanden es höchst amüsant, mich zu verspotten; sie folgten mir und ließen mich in die Zentrale kommen – was mit das Schlimmste ist, was dir in der Zone passieren kann, weil dann jeder glaubt, daß du singst. Natürlich versuchten sie auch, mich zum Informanten zu machen, aber ich weigerte mich. Dafür wurde ich drei Monate isoliert. Danach ließen sie mich in Ruhe, und die anderen Häftlingen brachten mir dafür mehr Achtung entgegen. Ich fing dann an, mich zu prostituieren, was der einzige Ausweg war.“
Valeri Klimow aus Nischni-Tagil ist ein kräftiger Mittdreißiger mit grauem Haar. Er wurde wegen der Beziehung zu einem Minderjährigen verhaftet. Als man ihn vorlud, schlug ihm der Untersuchungsbeamte zwei Möglichkeiten vor: Selbstmord oder Schuldbekenntnis. Falls er sich nicht schuldig bekenne, würden seine Freunde zu leiden haben. Klimow nahm alle Schuld auf sich und bekam drei Jahre. „Ich konnte mich im Gefängnis und im Lager ganz gut wehren. Aber mindestens zehnmal sind vor meinen Augen Schwule umgebracht worden. Einer wurde in einem Gefängnis in Swerdlowsk zu Tode geprügelt. Wir waren hundert Männer in der Zelle; drei oder vier vergewaltigten ihn jeden Tag und warfen ihn danach auf den Boden unter die Pritschen. Einmal haben ihn zehn hintereinander vergewaltigt und ihn noch auf den Kopf getreten. Ich bin dort fast verrückt geworden. Meine Haare wurden weiß. So verlieren Leute den Verstand. Viele sind psychisch krank, wenn sie entlassen werden.
Homosexuelle gibt im ganzen Lager, nicht nur die opuschtschennje tun es, auch das Personal in der Zentrale ist beteiligt. Unter den Gefängnisbedingungen wird aus einem heterosexuellen Mann schnell ein homosexueller. Manchmal ist das auch nicht Resultat des physischen Drucks, sondern hat mit Gefühlen zu tun. Unser Gruppenleiter Viktor Popow erklärte mir seine Liebe und bat mich, mit ihm zu schlafen; ich war der aktive Partner. Bis dahin hatte er sich hundertprozentig für einen heterosexuellen Mann gehalten. Er ist jetzt verheiratet und hat Kinder. Manchmal besucht er mich noch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen