300 Tassen warten auf den „Führer“

■ Kampnagel: Die Performance „Mein Herzensadolf“ verwendet Liebesbriefe an Adolf Hitler

„Mein Lieb“, „Herzensmann“ und „Adilein“ haben sie ihn genannt: Frauen im nationalsozialistischen Deutschland. Der so zärtlich Angeredete war – Adolf Hitler. Allerdings trauten sich die Frauen nur im stillen, so offen zu sein. Alle ihre lang aufgestauten Gefühle vertrauten sie Liebesbriefen an ihren „heißgeliebten Führer“ an. In ihrer Vorstellung sind sie Hitler so nah, daß sie einen ganz vertrauten Umgangston mit ihm pflegen. Nicht nur von ihrer Zuneigung, auch von den Kindern, Verwandtenbesuchen und vielen kleinen und großen Alltagssorgen schreiben sie. Darüber scheinen sie ganz zu vergessen, daß die Bekanntschaft nur einseitig besteht: Eine geht so weit, dem Diktator „recht schöne Grüße an Familie Göring“ aufzutragen. Aber die Verehrerinnen verharren keineswegs in hausfraulicher Fürsorglichkeit. Ohne jede Scham werden Angebote gemacht, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen. Von sexueller Verklemmtheit in den 30er Jahren keine Spur.

Lange war über die Existenz der Liebesbriefe nichts bekannt. Ein amerikanischer Soldat hatte nach Kriegsende zwar eine ganze Kiste dieser Zeitzeugnisse gefunden, aber erst im vergangenen Jahr wurde eine Auswahl in Deutschland veröffentlicht. Sie haben der Künstlerin Dorothea Reinicke und dem Musiker Vilem Wagner als Material für die Theaterperformance Mein Herzensadolf! gedient, die zur Zeit auf Kampnagel im Rahmen des Memory-Programms zu sehen ist. Spannungsreich sind Texte, Töne (die von Liedern bis zu Geräuschen reichen) und Diaprojektionen zu einer Collage montiert. Im Mittelpunkt stehen die beiden Akteurinnen Petra Bogdahn und Dorothea Reinicke, die Fragmente aus den Liebesbriefen vortragen, die zerstückelt und neu zusammengesetzt werden. Zwischendurch bringen sie immer wieder zwei Kaffetassen herein, die sie nach einem erwartungsvollen Blick in die Ferne sorgsam auf den Boden stellen. Am Schluß stehen fast 300 Tassen in Reih und Glied auf dem Boden – genau wie die Soldaten auf dem Bild darüber.

Höhepunkt des Abends ist zweifellos ein Brief, der in ganzer Länge auf eine Gazeleinwand projiziert, von Petra Bogdahn rezitiert wird. Eine Frau schildert ihre Wahnvorstellung: Stimmen haben ihr gesagt, sie sei auserwählt, des Führers Frau zu werden. Am Ende erschrickt sie über ihre eigene Kühnheit und bittet Hitler, sie nicht ins „Konzertlager“ zu stecken, das sie gleichwohl als „nationale Einrichtung“ preist.

So absurd die Projektion intimster Gefühle auf den „Führer“ auch wirkt, dieses psychologische Phänomen ist an keine Zeit gebunden. Der eigentliche Schreck entsteht im Kopf der Zuschauerin, wenn sie die zärtlichen Worte mit der Person verbindet, an die sie gerichtet sind: Adolf Hitler. Iris Schneider