: Music for the Wehrmacht
Heute erscheinen Glenn Millers „Lost Recordings“ in Deutschland. Die Aufnahmen erinnern an ein vergessenes Kapitel alliierter Propaganda kurz vor Kriegsende: Das Radio als Demokratiebringer, Jazz als Wunderwaffe ■ Von Thomas Groß
Ein Zufall kann es nicht sein, daß diese Aufnahmen in England am selben Tag veröffentlicht wurden, an dem man in Deutschland offiziell der Bombardierung Dresdens gedachte – und einen Run auf die Plattengeschäfte auslösten. Während hierzulande die Moral vom aktuell möglichen Stand der Täter- Opfer-Verrechnung diktiert schien, erinnerten dort Glenn Millers „Lost Recordings“ an ein vergessenes Kapitel alliierter Gegenpropaganda: den geglückten Einbruch in den deutschen Empfangsraum, Musik als Beihilfe zum Sieg, Jazz over Germany. Im Mittelpunkt: ein Orchester von Swing- Agenten starring Glenn Miller in der Rolle des „greatest morale-builder in the European Theater of operations“.
Es war kein Geringerer als James H. Doolittle, kommandierender General der achten Armee der US Air Force, der dem damals 40jährigen Miller diesen Ehrentitel verlieh. Die Situation: Im Juli 1944 hatten die allierten Truppen den D-Day, die Landung in der Normandie, bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Miller, Vertreter der damals modernsten Form der Unterhaltungsmusik und in den Vereinigten Staaten mit seinem Swing Orchestra ein gefeierter Star, war auf britischem Boden als Truppenunterhalter tätig, als man auf die Idee kam, Jazz nicht nur zur Hebung der Eigenmoral einzusetzen, sondern auch zur Zersetzung fremder Wehrkraft – Blue Notes als Botschafter der nahenden Demokratie, Message: Surrender.
„Music for the Wehrmacht“ war der Titel von insgesamt sechs halbstündigen Programmen des kurzerhand in „The American Band of the Alliied Expeditionary Force“ umbenannten Glenn Miller Orchestra, die über die „American Broadcasting Station in Europe“ (ABSIE) ausgestrahlt wurden (wie Geoffrey Butcher, Autor eines rechtzeitig zur CD-Veröffentlichung neuaufgelegten Buchs namens „Next to a Letter from Home: Major Glenn Miller's Wartime Band“ berichtet). ABSIE arbeitete von London aus als überseeischer Vorposten des Office of War Information (OWI), eines zivilen Propagandazweigs der amerikanischen Regierung, der natürlich de facto längst Bestandteil der „Psychological Warfare Division of General Eisenhower's Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force“ (SHAEF) geworden war. Der Start von ABSIE, wo man zunehmend Wert auf die musikalischen Programme legte, war am 30. April 1944. Millers eigene „Expeditionary Force“ ging erstmals am Donnerstag, den 8. November auf Sendung.
Sound der Supermacht
„Deutsche Soldaten, vor das Mikrophon tritt jetzt persönlich Major Glenn Miller“, sagt auf den bislang verschollenen Aufnahmen mit fast nur erahnbarem amerikanischem Akzent die Stimme von Ilse Weinberger, einer Exildeutschen, mit der Miller eine Art Moderatoren-Übersetzer-Clean-Sex- Wehrkraftzersetzungs-Couple bildete. Folgt eine Version von „Here We Go Again“, dem Jerry-Gray- Klassiker – wie sie überhaupt alle versammelt sind auf dieser vom britischen Conifer Label zusammengestellten, den tatsächlichen Sendungen folgenden „Lost Recordings“-Doppel-CD: Gershwins „Summertime“ und „Long Ago and Far Away“ – hier in einer deutschen Agitprop-Version namens „Lang ist's her und weit zurück“ –, Cole Porters „Begin the Beguine“, „Smoke Gets in your Eyes“, „Moonlight Serenade“, „Tuxedo Junction“, die ganzen, mit Millers Namen verbundenen Evergreens, allen voran natürlich „In the Mood“ – süßliche, samtverzierte Klänge aus einem prä-Rock-'n'- Roll-Amerika, nur recht unschuldig erst vom „echten“ Jazz berührt, praktisch improvisatiosfrei, mit einem Operettenbein und der gesamten String Section noch im 19. Jahrhundert stehend, nach heutigen Maßstäben Altherrenmusik, Major Miller's Lonely Hearts Club Band.
Die Veteranen werden's danken, Anlaß und Editionsgeschichte – Bänder, die in Archiven schlummerten, von „Idealisten“ in mühevoller Kleinarbeit detailgetreu rekonstruiert – sprechen eher für den dokumentarischen Zugang. Zu hören ist tatsächlich der Sound der neuen Welt-Supermacht, eines US-Amerika, das freundlicherweise schon vor der Kapitulation begonnen hat, die deutsche Bevölkerung mit seinen Exportschlagern bekannt zu machen.
Wipe out all Nazi Gangsterism!
Zwischendurch hält Miller, der „Moralebuilder“ und glühende Patriot, kleine Reden auf das transatlantische Wunderland, wo Italienisch-, Russisch-, Deutschstämmige, Leute aus allen Weltgegenden, „a true picture of the great melting pot“ abgeben – auch und gerade hier in seiner Band, die sich wie zum Beweis dafür sofort wieder locker in die Schräglage swingt. Schwarze sind keine dabei – dermaßen gemischt sollte die Voice of America auch wieder nicht sein –, dafür aber Männer (und auch ein paar Frauen) mit so multikulturellen All-american Namen wie Vince Carbone, Peanuts Hucko, Trigger Alpert (ein Verwandter des späteren Softjazzers?), Steve und Gene Steck, Zeke Zarchy, Harry Katzmann, Joe Shulman, Carmen Mastren, Freddy Guerra, Eugene Bergen, Joseph Kowalewski, Emanuel Wishnow oder, noch phantastischer, noch mehr wie eigens vom amerikanischen Traum für dieses Programm ausgedacht: Hank Freeman.
Phantastisch, geradezu Loriot- artig auch die (leider nur zum geringen Teil auf CD übernommenen) Dialoge zwischen Miller und Ilse Weinberger: „Das klingt typisch amerikanisch, so beschwingt, so heiter und so frei“, skandiert Weinberger nach einer herabgedimmten Version von „Swing Low, Sweet Chariot“ lauthals auf den Major zu, der mit der comichaften Coolness von Captain Marvel zurückdröhnt: „Right you are, Ilse, love of freedom and love of a carefree life are two vital American characteristics, and I hope the time will soon be here when we will completely wipe out all Nazi gangsterism!“
Wer es schafft, den „Inhalt“ auszublenden, hört sich bereits einem Waschmittelspot der fünfziger Jahre gegenüber. Extrem trashig auch die Szene, in der der „GI Sinatra“ Johnny Desmond, von Weinberger euphorisch als Gastsänger vorgestellt („Herr Feldwebel Desmond, was darf ich für Sie ansagen?“), auf Millers Geheiß eine Übersetzung des Titels „My Heart Tells Me“ für den deutschen Landser liefert: „Main Herrz meltet sick zur Stelle“. Sie hatten schon auch Humor, die Jungs.
Revolution Number 9
Wie viele Naziseelen, „Fremdhörer“ oder „Mitläufer“ noch vor 1945 von der Radio-Wunderwaffe Jazz für die kommende, die amerikanische Demokratie erlöst werden konnten, ist nicht erforscht, spielt aber auch keine große Rolle für dieses frühe Experiment in Sachen psychischer Amerikanisierung. Wichtiger ist das Modell, der exemplarisch-strategische Durchbruch der Operation Miller & His Swing Invaders. Anders als es ein hartnäckiges Klischee will, waren die Nazis ja nicht nur atavistische Sonnenwendfeierer, rückwärtsgewandte Naturverherrlicher und dumpfe Mystagogen, sondern auch und vor allem Techniker an der Modernisierungsfront – Hitler kein Hinterwäldler, sondern Filmliebhaber und Radiodiktator. War die Führerfrequenz erst einmal von fremden Störgeräuschen überlagert, der Kanal infiziert, war auch das Monopol der Volksempfänger gebrochen – und eine Schlacht der (Psycho-)Technik gewonnen.
Abzulesen ist das eher an den Folgen als an der auf dieser CD festgehaltenen Urszene der Gegenpropaganda in den Zeiten des Pop: Wenn Unterhaltungsindustrie einem Wort des Medienforschers Friedrich Kittler zufolge „Mißbrauch von Heeresgerät“ ist, dann zieht die Spur zivil gewendeter Kriegstechnologien sich durch die gesamte Geschichte des Durchbruchs populärer Musik. Es waren bekanntlich die Soldatensender, American Forces Network (AFN), British Forces Network (BFN), später British Forces Broadcasting System (BFBS), die Nachfolger von ABSIE, die die Eingeborenen von Trizonesien am wirkungsvollsten entnazifizierten. Und kann es ein Zufall sein, daß „Music for the Wehrmacht“ in den Londoner Abbey-Road-Studios produziert wurde, dem Ort, an dem später die berühmteste Band der Welt unter Anleitung des Ex- „Leading Naval Air Man“ und Transportoffiziers George Martin ihre Botschaften collagierte – unter anderem auch jenes Radiorauschen des Experimentalstücks „Revolution Number 9“, in dem einmal kurz eine Glenn-Miller- Melodie aufglimmt?
„Ihre Fortschritte im Deutschen sind ausgezeichnet“, lobt Ilse Weinberger Miller gegen Ende der Aufnahmesessions von „Music For The Wehrmacht“. An echten Eingeborenen anwenden können hat er seine Kenntnisse nicht mehr. Major Miller kam am 16. 12. 1944 „unter nie ganz geklärten Umständen“ (wie es in den Geschichtsbüchern in solchen Fällen heißt) bei einem Flugzeugabsturz über dem Ärmelkanal ums Leben.
Glenn Miller: „The Lost Recordings. The American Band of the AEF featuring Dinah Shore, Irene Manning, Johnny Desmond and Ray McKinley“. (Conifer Records/BMG).
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