■ Das Portrait: Tiit Vähi
„Irgend jemand muß doch arbeiten, wenn alle Wahlkampf machen.“ Mit dieser Begründung hatte Tiit Vähi vor drei Jahren auf eine Kandidatur zu den ersten freien Parlamentswahlen in Estland verzichtet. Damals hatte er gerade acht Monate auf dem Sessel des Ministerpräsidenten gesessen – als recht handlungskräftige Führungsfigur einer Übergangszeit zwischen russischen Gassperrungen und politischen Drohungen, dem Übergang zur Marktwirtschaft und der Einführung einer eigenen Währung. „Regierung der roten Direktoren“ wurde sein Kabinett genannt – und er war zu Sowjetzeiten einer dieser roten Direktoren. Und damit selbstverständlich auch KP- Mitglied.
Seine Enthaltsamkeit auf nationaler Ebene während der ersten Legislaturperiode hat sich für ihn offenbar ausgezahlt. Ganz konnte er die Politik nicht lassen. Er hatte sich in den Stadtrat der Hauptstadt Tallinn wählen lassen, war zuletzt dessen Vorsitzender und hatte damit einen idealen Ausgangspunkt, um an der Basis den wachsenden Sorgen des „einfachen Bürgers“ ein offenes Ohr schenken und Besserung versprechen zu können.
Von seiner politischen Vergangenheit her bis fünf Minuten vor der Entscheidung im Selbständigkeitskampf ein politischer „Linker“, vertritt Vähi, der Vorsitzende der Koalitionspartei, einen scharf marktwirtschaftlichen Kurs. Wenn die EstInnen ihm trotz dieser relativen Nähe zu den bisherigen Rechtsregierungen ihr Estlands neuer RegierungschefFoto: dpa
Vertrauen schenkten, dann wegen seiner Fähigkeit, eher einen pragmatischen als einen ideologischen Kurs zu steuern. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaftspolitik, sondern auch für die Außen- und Innenpolitik, beispielsweise was das Verhältnis zum großen Nachbarn im Osten und zur russischen Minderheit im Lande angeht.
Bereits während seiner ersten Regierungsperiode hatte Vähi ein Gespann mit dem ein Stück weiter links stehenden damaligen Staatspräsidenten Arnold Rüütel gebildet. Wie lange diesmal das vor zwei Monaten zusammengeschusterte Bündnis der beiden populären Politiker hält, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob es einigermaßen stabile Verhältnisse in Tallinn geben wird. „Wenn ich wieder in die Politik gehen sollte, dann vielleicht, wenn man Politiker mehr nach dem beurteilt, was sie machen, nicht was sie sagen.“ Seine Abschiedsworte von vor drei Jahren sollte er sich eingerahmt auf den Schreibtisch stellen. Reinhard Wolff
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