■ Zynisches Symbol der Ego-Gesellschaft: Die „Vereinzelungsanlage“
Bis sich gesellschaftliche Veränderungen über den Weg ihrer Erkenntnis und das Bewußtsein der politischen Eliten endlich im Recht niederschlagen, vergehen nicht selten Jahrzehnte. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, noch langsamer kommen sie in Gang.
Mit Verspätung hat nun die Justiz auf eine der umfassendsten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte reagiert, von Soziologen, Sozialpädagogen und Sozialdemokraten längst erkannt, angeprangert und beklagt – auf die zunehmende Vereinzelung der Menschen in der Risiko-, Leistungs- und Konsumgesellschaft. Im Hamburger Strafjustizgebäude wurde kürzlich die erste „Vereinzelungsanlage“ installiert. Sie soll dafür sorgen, daß kontrolliert immer nur eine Person zur Zeit das Gebäude verlassen kann. Daß die Bürger „verwirrt, verwundert und verärgert“ (Hamburger Morgenpost) reagierten, verwirrt und verwundert uns da kaum. Es verärgert die Art und Weise, in der mit ihren berechtigten Interessen umgesprungen wird. Zwar denkt man an den verständlichen Wunsch, sich angesichts des täglichen Konkurrenz- und Überlebenskampfes auch mal zurückzuziehen. Doch wird hier – mal wieder – auf Technik statt auf Zwischenmenschlichkeit gesetzt. Die Morgenpost über die Vereinzelungsanlage: „Auf Knopfdruck öffnet sie einen Spalt, gibt eine Nische frei, in die man sich stellen muß.“
Dem ist manches hinzuzufügen: Warum überläßt man es dem mündigen Bürger nicht selbst, ob er sich in eine Nische zurückzieht? Sind die Individuen in einer Gesellschaft voller Singles, Egoisten und Karrieristen nicht zur Genüge vereinzelt? Brauchen wir auch noch die Vereinzelungsanlage?
Der Verdacht drängt sich auf, das Problem der Vereinzelung soll gar nicht gelöst, sondern verschärft werden. Statt als Anwalt der Menschlichkeit die Vereinzelung zu geißeln und mit allen Möglichkeiten des Rechts zu bekämpfen, macht sich die Justiz zum Büttel anachronistischer Herrschaftsinteressen. Klassenjustiz, die in vorauseilendem Gehorsam die rücksichtslose Entfaltung der Verwertungsbedingungen des Kapitals perpetuiert.
Eines jedenfalls verdanken wir der Hamburger Vereinzelungsanlage. Sie bringt die Dramatik der „Individualisierung“ (Ulrich Beck) auf den Punkt. Sprachforscher aufgemerkt: Ein echter Anwärter für das (Un-)Wort des Jahres 1995. Joachim Frisch
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