„Anklagen ist einfacher, als von Liebe zu zeugen“

■ Die Ökumene in der russischen Hauptstadt steht im Kreuzfeuer der Kritik

Bis vor kurzem arbeitete in der „Kirche der Heiligen Kosma und Damian zu Schubino“ eine Druckerei. Heute werden hier, mitten in Moskau, neben dem Stadtsowjet, wieder Gottesdienste abgehalten, und zwar von den Anhängern des Paters Alexander Men. Men wurde vor vier Jahren mit einem Beil erschlagen, der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt.

Men war einer der bedeutendsten russisch-orthodoxen Theologen. In den 60er und 70er Jahren, als man wegen eines Kirchenbesuches noch seinen Arbeitsplatz verlieren konnte, taufte er Zehntausende von Menschen. Ihm zu Ehren kommen heute in diese Kirche viele Intellektuelle, Angehörige der verschiedensten Nationen, darunter auch viele Juden.

Tatsächlich ist hier in der Kirche alles anders. Russische Popen sind gewöhnlich keine großen Kirchenlichter. Ihre Predigten reduzieren sich meist auf ein unverständliches Gebrummel, das vor dem Hintergrund der herrlichen Ikonen und des gleißenden Altars kraß abfällt. Ich war also nicht wenig verwundert, als sich hier der 60jährige Gemeindevorsteher Pater Alexander Borisow, seines Zeichens studierter Biologe, als hervorragender Redner erwies. Der Unterschied zwischen seiner und anderen russich-orthodoxen Gemeinden bestehe „wahrscheinlich darin“, meint er, „daß wir darauf verzichten, unsere eigene Überlegenheit über andere Religionen herauszustreichen. Wir sind Anhänger der ökumenischen Bewegung.“

Auf dem letzten Konzil im Herbst 1994 forderten eine Reihe von orthodox-fundamentalistischen Gemeinden, Alexander Borisow des Amtes zu entheben. Aber Borisow spielt die Sache herunter: „Der Patriarch selbst hat sich niemals offiziell in dieser Richtung geäußert. Es stimmt, daß er Kritik an meinem Buch ,Ausgebleichte Flur‘ geäußert hat. Ich habe ihm vorgeschlagen, das im Gespräch zu klären. Da er bisher darauf nicht reagierte, habe ich den Verkauf des Buches in meiner Gemeinde vorläufig eingestellt.“

Alexander Borisow drückte einst die Schulbank gemeinsam mit Alexander Men. Ob nicht auch die Nähe zu Men Feinde in der Kirche schafft? Men erregte als Jude und Intellektueller vor allem den Haß neofaschistischer Kreise. Vertreter der rechtspatriotischen „Pamjat“-Gruppen bezeichneten ihn sogar als „trojanisches Pferd der russischen Orthodoxie“. „Ja“, gibt Borisow zu, „Mens ökumenische Prinzipien, seine Schriften, führen bei manchen Priestern zu extrem negativen Reaktionen. Dabei hat sein Buch ,Der Menschensohn‘ vielen Tausenden unserer Landsleute erst das Lesen der Bibel ermöglicht. Aber wissen Sie, gerade Leute, die selbst erst vor kurzem zur Religion gefunden haben, glauben oft, ihre eigene Vortrefflichkeit besonders unter Beweis stellen zu müssen. Es ist einfacher, andere anzuklagen, als von Jesus und seiner Liebe zu zeugen.“

Es scheint, Borisow will einfach nicht auf seine Schwierigkeiten innerhalb der heutigen russischen Orthodoxie eingehen. Auch dies ganz im Sinne Alexander Mens. Der verbohrte sich nie in Konflikte – und betonte zur Sowjetzeit stets, er zähle sich nicht zu den „Dissidenten“. Galina Labsina, Moskau

Übersetzung aus dem Russischen: B. K.