„Einmal nur fünf Minuten mit Bill“

Bill Gates spricht auf der CeBit zu seinen Jüngern. Multimedial zeigt er ihnen ihre Zukunft  ■ Aus Hannover Jochen Wegner

Und schließlich gab Bill den Menschen Windows“, sagt Yaniv feierlich und legt den Kopf schief. „Und da endlich sahen sie bei IBM, welche Verfehlung sie begangen hatten“, fügt er nach einer Pause hinzu, „als sie ihn nicht genügend beachteten.“ Langsam wendet er eine Handfläche nach oben. „Und nun schenkt uns Bill Windows '95.“

Yanivs Gesicht beherrscht eine große Brille – es verschwindet fast hinter Glas und ruht dort meist ohne eine Miene. Ein Lächeln erlaubt er sich nie. Sein Haar trägt er topfrund geschnitten und sorgfältig gekämmt. Sein schwarzer Anzug kann den schmächtigen Körper kaum verbergen, die schmalen Schultern sind nach vorne geneigt.

„Viele wissen nicht, daß Israel eines der bestcomputerisierten Länder der Erde ist“, sagt Yaniv bestimmt, der in einer Stadt nahe Tel Aviv, wie er sagt, als „Technical Engineer“ in der Computerfirma seines Vaters arbeitet. Nun ist er mit dem Vater aus Israel gekommen, um Bill Gates zu hören. Yaniv ist elf Jahre alt.

Wir warten zusammen in einer Traube von vielleicht 200 Menschen, die sich eine Stunde vor Redebeginn am Aufgang des Saals mit nur 800 Plätzen gesammelt haben, in respektvollem Abstand zur breitbeinig dastehenden Sicherheitstruppe „Markus & Partner“. Plötzlich löst sich Yaniv aus der Menge und tritt alleine ins Niemandsland zwischen uns und den Sicherheitsbeamten, um einen kleinen Vorsprung zu haben.

„Los“, sagt der Microsoft-Manager K. um Punkt zwölf, und die Schutztruppe klappt aus ihrer Grätschstellung, gibt den Weg frei. Wir stürmen die Treppe hinauf, inzwischen sind wir an die 300, Yaniv uns allen voran. Als einer der ersten sichert er sich einen Platz in der zweiten Reihe vor dem Podium im „Saal 2“ des Kongreßzentrums auf der Computermesse CeBit.

„Er betritt den Raum, und man bemerkt es zuerst nicht. Es ist, als ob man einen alten Kommilitonen wiedertrifft“, hat K. vorhin beim Warten von seiner ersten Begegnung mit Bill Gates erzählt. „Aber dann im Gespräch merkt man, daß man einem Genie gegenübersitzt. Nie in meinem Leben habe ich sonst jemanden getroffen, der so schnell die Essenz einer Diskussion erfaßt.“

William H. Gates III. ist der Messias. Seine Software ist die Religion. 90 Prozent aller PC-Benutzer auf dieser Welt glauben an sein Betriebssystem „MS-DOS“. Gates besitzt Aktien seines Unternehmens Microsoft im Wert von über sechs Milliarden Dollar. Er ist der wohlhabendste Mensch Amerikas. Bereits als Junge tat er Wunder: Gerade zwei Jahre älter als Yaniv heute, gründete er die ersten beiden Computerfirmen – in einer Zeit, als Computer selten und summende Schränke waren. Mit 19 brach er ein Harvard-Studium ab, um sich endgültig seiner Mission zu stellen. Mit 25 lieferte er das erste „MS-DOS“ an IBM, die damals mächtigste Computerfirma der Welt. Doch IBM schluderte, man ließ dem jungen Gates die Rechte an seiner Software. Heute ist Microsoft mächtiger als IBM.

Mit seinem Sitznachbarn diskutiert Yaniv über die Geschäftspolitik von Microsoft. Der Junge im Anzug schließt ernst: „Und nun schenkt uns Bill Windows '95.“ Es ist fast ein Uhr. Yaniv erstarrt. Er hat eine Erscheinung.

Drei Minuten vor eins lugt William H. Gates III. kurz aus dem Seiteneingang hinter dem Rednerpult, als ein Assistent hervortritt, um ein Getränk auf das Pult zu stellen. Nur wenige außer Yaniv haben es bemerkt, alle starren auf die Nahaufnahme einer Flasche Coca-Cola, die sich in das Glas auf dem Rednerpult ergießt. Das Bild wird bei der letzten Kameraprobe aus Versehen auf die haushohe Videowand hinter dem Rednerpult übertragen. Ein Raunen, dann ein Lachen, langanhaltender Applaus. Natürlich wissen alle Jünger, daß sich der Meister nur von Cola und Fertiggerichten ernährt. Der vorletzte Applaus für die nächsten eineinhalb Stunden.

Yaniv erwacht nicht aus seiner Starre. Er fixiert die Stelle an der Wand, aus der William H. Gates III. gleich treten muß. Und da erscheint Bill leibhaftig, und Yaniv sieht plötzlich nichts mehr, das Rudel der aufspringenden Fotoreporter versperrt ihm die Sicht. Yaniv bewegt sich trotzdem nicht. Er verzieht keine Miene. Der unsichtbare Messias hebt an: „It's great to be here...“

Schließlich wird Fotografieren untersagt, und wir haben beste Sicht auf Bill. Nur von weitem sieht er noch aus wie ein WASP-College-Absolvent beim Abschlußball mit seinen Sommersprossen, der altbackenen grauroten Seidenkrawatte, dem topfrunden, sorgfältig gekämmten Billigschnitt und der riesigen Brille, die sein Gesicht verglast. Die Großaufnahme aber zeigt ein gealtertes Gesicht. Gates hat sich beim Rasieren geschnitten, und Schuppen liegen auf den Schultern des schwarzen Anzugs, der den schmächtigen Körper, Buckel und Bauchansatz betont. Seine schmalen Schultern hängen. Er wirkt müde und ausgebrannt. Vielleicht ist er, der früher tagelang konzentriert durcharbeiten konnte, nur erkältet, vielleicht leidet er nach dem Direktflug aus Seattle an Jet-Lag. Er ist 39 Jahre alt.

William H. Gates III. ist der Prophet. „Ein PC auf jedem Schreibtisch und in jedem Zuhause“ war seine Weissagung und zugleich sein frommer Wunsch, als er die Gebetsmühle Microsoft zum Drehen brachte. Zwanzig Jahre später prangen die Worte immer noch auf der ersten Seite der Microsoft-Bibel – dem Geschäftsbericht. Seine Fürbitte für die Menschheit hat sich noch nicht ganz erfüllt. Dank sehr vieler PCs auf sehr vielen Schreibtischen aber hat Microsoft jetzt vierzehneinhalbtausend Angestellte. Heute wünscht Gates der Menschheit riesige globale Datennetze. Und wirkt am neuen Wunder mit: Im Herbst startet zusammen mit dem neuen „Windows '95“ auch „The Microsoft Network“.

1990 hielt Gates, damals längst als geachteter Prophet im eigenen Lande, auf der US-Computermesse Comdex eine Rede über technische Entwicklungen der nächsten Jahre. Die meisten seiner damaligen Prophezeiungen sind bereits eingetroffen. Im letzten Herbst hörten seine Jünger auf derselben Messe die nächste Offenbarung des William: die Welt im Jahr 2005. Nun ist er nach Hannover gekommen, um sie auch mit Europa zu teilen.

Nicht nur Yaniv, auch die anderen Zuhörer rühren sich kaum, nie unterbricht gar Applaus die Predigt vom Podium. Mit hoher, manchmal leiernder Stimme, die sich ab und an überschlägt wie bei einem Pubertierenden, sagt Bill Sätze wie: „Wir haben bereits phantastische Arbeit geleistet. Aber es muß noch viel getan werden.“ Dann nickt Yaniv kurz.

Auf der Videowand hinter sich zeigt Bill einen kleinen, teuren Krimi, der unser Leben in zehn Jahren ausmalt. Die Film-Detektive sehen auf ihrem Film-Display im Film-Auto via Satellit gleichzeitig das Gesicht des grimmigen Chefs, eine Live-Übertragung von der Leiche, den Stadtplan mit ihrem Standort und die aktuellen Polizeimeldungen.

Der müde Bill scheint zum ersten Mal seit seinem Erscheinen aufgeweckt. Gebannt folgt er der Handlung und grinst, dann beißt er sich auf die Lippen, nimmt einen Schluck Cola. Auch Yaniv ist fasziniert von der bunten Zukunft. Später aber wird er meinen: „Bill hat für mich heute nichts Neues gebracht. Er hat uns das alles schon öfter so vorhergesagt.“

„Schauen wir, wie unsere Geschichte weitergeht“, freut sich Bill auf dem Podium, und das nächste Filmhäppchen kommt. Ein Wandschirm merkt, daß die Mutter da ist, und zeigt den Rest der angefangenen Show von gestern, der Sohn recherchiert währenddessen von der Küche aus in internationalen Datennetzen für seine Hausarbeit über präkolumbianische Kunst. Schließlich fährt er im Auto mit Mom in eine Galerie für Präkolumbianik, in der zufällig auch phantastische Picassos hängen – auf den zweiten Blick: hochauflösende Displays. Später sehen wir ihn in der Schule ein Referat halten, mit Hilfe einer Multimedia- Wand im Klassenzimmer. Yaniv macht dazu einen abschätzigen Laut. Auf dem Nachhauseweg jagen ihn Gangster vor ein Auto, eine Ambulanz bringt den Jungen ins Hospital.

Diese Wunder, hat uns Bill vorher eingeschärft, werden wahr werden: „This all will take place, no doubt“, kurz ein hohes Hüsteln, dann „at the same prices or lower“. Wir Kunden, hat er uns erklärt, sind die Gewinner. Jeder hat die Möglichkeit dabeizusein.

Die Welt der „opportunities for everyone“ wird wunderbar: Nur Obergangster rauchen, die elektronische Brieftasche von Mom merkt sich, wann sie dem Sohn einen Kredit rübergefunkt hat, das Display in der Notaufnahme des Krankenhauses, in das der Junge nach seinem Unfall eingeliefert wurde, zeigt den medizinischen Aufriß seines Körpers mit einem Feigenblatt vor den „naughty bits“ zwischen den Beinen.

Und das Gute siegt in der Zukunft per Knopfdruck. Zuerst war die Mutter erschossen worden, als ein Gangster in das Haus eindrang. Totenstille im Saal, vereinzelt heiseres Auflachen. Auch Bill lächelt jetzt genüßlich: „This is a sad ending, isn't it?“

Doch zum Glück gibt es im Jahr 2005 interaktive Filme. Ein Button mit „Alternative Ending“ erscheint auf der Videowand, Bill drückt eine Taste – und plötzlich ist die Mutter in Wirklichkeit eine Detektivin, die den Gangster festnimmt. Befreites Lachen, dann brausender Applaus. Der erste seit anderthalb Stunden. Yaniv erwacht aus seiner verzückten Trance und klatscht mit.

„Einmal, nur einmal fünf Minuten mit Bill“, sagt er später beim Hinausgehen, „das ist der Wunsch meines Lebens. Das erste, was ich ihm sagen würde“, erzählt er ungefragt weiter, „ist: Danke für alles, was du für mich und für meine Kinder getan hast.“ Dann würde er Bill fragen, ob er 1980 gewußt hätte, daß er heute der mächtigste Mann der Welt sein würde.

Bevor wir uns verabschieden, erklärt Yaniv: „Bald wird uns Bill Windows '95 schenken und damit auch gleich The Microsoft Network.“ Durch seine riesige Brille schaut er zu mir hoch und schüttelt mir höflich die Hand: „The Microsoft Network ist ein weiterer Weg, auf dem Bill die Welt beherrschen wird.“ Und Yaniv lächelt. Er weiß, daß er recht hat.