: Ein Auto wird ohne Bremse geliefert, und TÜV, Behörden und Versicherungen finden nichts dabei – so ungefähr muß man sich den Skandal um die vorschriftswidrige Bugklappe der gesunkenen Fähre „Estonia“ vorstellen Aus Stockholm Reinhard Wolff
„Eine völlig idiotische Konstruktion“
28. September 1994, kurz nach Mitternacht. In der Ostsee wütet ein Sturm mit Windgeschwindigkeiten von über 20 m/sec. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Die „Silja Europa“, ein gigantisches Hotelschiff, befindet sich auf halbem Weg zwischen Helsinki und Stockholm, als sie einen SOS- Ruf empfängt – „Save Our Souls“, funkt die „Estonia“. Da ist es schon zu spät.
Eine halbe Stunde nach dem Funkruf versinkt die „Estonia“ unweit der finnischen Insel Utö im Meer. 137 Menschen werden gerettet. Mehr als tausend Menschen fallen der Katastrophe zum Opfer. Wie viele es genau sind, wird man nie wissen: Es gibt keine verläßlichen Passagierlisten. Und die von den PolitikerInnen im ersten Schock versprochene Hebung der Fähre und Bergung der Toten wird es nicht geben: Die gesunkene Fähre wurde einfach zum Friedhof erklärt. Unbefugtes Tauchen gilt als Grabschändung. Noch in diesem Sommer soll die „Estonia“ für immer unter einem unterseeischen Betonsarg verschwinden.
Was von ihr bleibt, ist die Bugklappe. Zwei Kilometer von der Untergangsstelle im Meer gefunden und gehoben. Das 60-Tonnen- Teil ist der Schlüssel für eine unglaubliche Skandalgeschichte, in der eine Werft, mehrere Reedereien, Klassifizierungsgesellschaften und Behörden in Schweden, Finnland und Deutschland verantwortliche Rollen spielen.
Die Vorgeschichte: Im Jahr 1979 bestellt die finnische Viking- Line bei der Meyer-Werft in Papenburg zwei neue Fährschiffe. Der Fährverkehr in der Ostsee boomt. Die Schiffe werden größer und größer. Die Fähren gehören, nach einer in den fünfziger Jahren entwickelten Grundkonzeption, dem „Ro-Ro-Typ“ an – Roll-on- roll-off, große Klappen an jedem Ende des Schiffsrumpfes erleichtern die Beladung mit Autos.
Viking-Line ist der Marktführer unter den Reedereien. Im Sommer werden die Autodecks der Fährschiffe bis zum letzten Zentimeter vollgepackt. Zwei zusätzliche Meter Lastfläche bringen einige zehntausend Mark in der Jahresbilanz. Konstrukteure wie die Meyer- Werft sind gefordert, jeden Meter auszunutzen. Dazu hat man sich etwas einfallen lassen, was „eigentlich“ gegen geltende Seesicherheitsbestimmungen verstößt: Bugklappe und Bugrampe, zwischen denen ein Sicherheitsabstand von einigen Metern und ein zusätzliches Schott liegen soll, damit diese unabhängig voneinander das Schiff nach vorne wasserdicht halten, werden zusammengerückt und ineinander verklinkt.
Am 27. Juni 1980 erhält die spätere „Estonia“ als „Viking Sally“ das „Sicherheitszertifikat für Passagierschiffe“ durch die finnische Seesicherheitsbehörde: Das Schiff erfülle alle geltenden Sicherheitsbestimmungen. 5.206 Tage später wird sich erweisen, daß dies nicht stimmte. „Wir haben nie im Traum daran gedacht, uns über diese Konstruktion nähere Gedanken zu machen“, erklärt Gunnar Edelmann von der Behörde jetzt dieses Vorgehen: „So hatte man Fähren ja schon lange gebaut. Im nachhinein kann man nur sagen: eine völlig idiotische Konstruktion.“
„Wir haben uns auf die Klassifizierungsgesellschaften verlassen, keine eigenen Kontrollen angestellt“, erklärt Edelmanns Kollege Jan Janson: „Wir haben ausgerechnet, ob die Schwimmwesten reichten und die Rettungsboote. Für die Konstruktion hatten wir nicht die Ressourcen. Dafür ist die Klassifizierungsgesellschaft zuständig.“ Klassifizierungsgesellschaften sind die Seehaftpflichtversicherungen, ohne die kein Schiff auslaufen darf. Im Fall der „Estonia“ heißt sie Bureau Veritas. Deren Pressesprecher Colin Spencer von der Zentrale in Paris: „Warum sollten wir ein Fahrzeug zusätzlich kontrollieren, dem die Behörden das Sicherheitszertifikat ausgestellt haben?“
Was ein Blick in die internationalen Seesicherheitsvorschriften (Solas) bestätigt. Kapitel 1, Teil B, Regel 6e: „In jedem einzelnen Fall garantiert die Behörde eine vollständige Besichtigung und Kontrolle nach den Solas-Regeln.“ Die finnische Behörde hätte der „Viking Sally“ übrigens trotz des Verstoßes gegen die Bestimmungen eine Ausnahmegenehmigung nach Kapitel II,1, Teil A, Regel 1:4 erteilen dürfen – aber dann hätte das Schiff eine 20-Seemeilen-Zone vor der nächsten Küste nicht verlassen dürfen. Eine Ausnahmevorschrift, die ein zusätzliches Zertifikat erfordert hätte. Damit es bei einem Verkauf der Fähre dem neuen Eigentümer auf jeden Fall nachweislich bekannt ist. Das Amt hat dieses Zertifikat aber nie ausgestellt. Weil es sich auf diese Ausnahmevorschrift auch gar nicht stützte.
Angeblich gibt es in den Vertragsunterlagen der Viking-Line und der Meyer-Werft zum Bau der „Viking Sally“ ein Dokument, das den Verstoß gegen die Solas-Regeln ausdrücklich gestattet: „Für den vorgesehenen Dienst wird diese Konstruktion [die Trennung von Bugklappe und -rampe; d.A.] von der finnischen Seesicherheitsbehörde nicht gefordert.“ Eine Behauptung, welche die Werft beweisen müßte, wollte sie sich wirklich von jeder Schuld an der fehlerhaften Konstruktion befreien, eine Behauptung, die aber die Behörde in Helsinki weit von sich weist.
14 Jahre lang wird das Schiff regelmäßig kontrolliert. Von den Behörden, der Klassifizierungsgesellschaft „Bureau Veritas“ und natürlich den Reedereien. Die wechseln. Zunächst kauft die Silja-Line das Schiff und setzt es als „Silja Star“ ebenfalls zwischen Finnland und Schweden ein, dann die Est- Line zwischen Tallinn und Stockholm. Nach der „Estonia“-Katastrophe wird sich zeigen, daß seit 1970 mehr als 20 Fähren mit ähnlicher Bugklappenkonstruktion ernste Probleme hatten. Den Reedereien war das bekannt, den Klassifizierungsgesellschaften und – zumindest teilweise – auch den Behörden. Bugklappenkonstruktionen wie die der „Estonia“ werden seit Jahren nicht mehr gebaut. Für die Altkonstruktionen schien sich niemand zuständig zu fühlen.
Die „Estonia“ hat ein Schwesterschiff. Es heißt „Mare Balticum“ und verkehrt – mit umgebauter Bugkonstruktion – zwischen Stockholm und Tallinn. Auf der Meyer-Werft als „DianaII“ gebaut, wurde es ebenfalls trotz vorschriftswidriger Konstruktion genehmigt – weil unter schwedischer Flagge für die Viking-Line eingesetzt, von der schwedischen Seesicherheitsbehörde. Und auch diese machte es wie die Kollegen in Finnland: Feuerlöscher wurden kontrolliert und ein allgemeines Seesicherheitszertifikat erstellt. Und zwar für die gesamte Konstruktion, nicht als Ausnahmegenehmigung für „küstennahe“ Strecken. Denn auch „DianaII“ verkehrte längere Zeit in offenen Gewässern. Nach einem Konkurs eines Gesellschafters der Viking- Line ging die „DianaII“ in das Eigentum der staatlichen schwedischen Nordbank über. Die Hamburger Reedereei TT-Line charterte das Schiff für ihre Tochtergesellschaft TR-Line und setzte es auf der Route Rostock – Trelleborg ein. In der gleichen Sturmnacht im Januar 1993, in der vor Rügen die polnische Fähre „Jan Heweliusz“ unterging, wurde die Bugklappe der „DianaII“ losgerissen. Die stählernen Befestigungsanordnungen brachen unter der Kraft der Wellen ganz einfach durch. Im Gegensatz zur „Estonia“ aber nicht alle. Doch die beschädigten Teile waren die gleichen, die ein halbes Jahr später zum Untergang der „Estonia“ führen sollten. „Es waren die gleichen Details und Schweißnähte bei beiden Schiffen“, bestätigt Mikael Huss, Schiffstechniker an der Technischen Hochschule in Stockholm.
Die TT-Line meldete den Vorfall nicht weiter. Die Eigentümerin Nordbank ebenfalls nicht. Der Kapitän der „DianaII“ telefonierte mit der Klassifizierungsgesellschaft „Bureau Veritas“ und einem Beamten der schwedischen Seesicherheitsbehörde in Malmö und meldete den Schaden an. Eine Untersuchung gab es nicht. „Wäre sie gemacht worden, wäre die ,Estonia‘-Katastrophe vermieden worden, weil wir dann systematisch ermittelt hätten“, sagt Bengt- Erik Stenmark, Leiter der schwedischen Behörde.
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