: Komplexe, lebenslustige Welt
Pompeji als museale Rückversicherung: Antike Meisterwerke aus Neapel in der Bonner Bundeskunsthalle / Auf Vergleiche zur neuen Geschmacksmanier „à la Grecque“ bei Möbeln, Bronzen oder Schmuck wurde leider verzichtet ■ Von Ingo Arend
Die Antike ist wieder gefragt: Es sind die muskulösen Unterschenkel des Herkules, für die sich die BesucherInnen der Bonner Bundeskunsthalle begeistern. Der drei Meter hohe, bärtige, nackte Koloß, der im Foyer auf seine Keule gestützt auf die Kunstjünger herabschaut, die Äpfel der Hesperiden in der Rückhand, ist ein Abguß des berühmten Hercules Farnese. Ganz früher stand der antike Rausschmeißer in den römischen Caracalla-Thermen. Der athenische Bildhauer Glaukon hatte ihn für die römische Kundschaft vom Original des Lysipp abkopiert. Seit 1546 lehnt er im „Real Museo Borbonico“ in Neapel. Zusammen mit 130 weiteren Kostbarkeiten des größten archäologischen Museums der Welt ist der mächtige Herkules in Bonn nun der Ergötzung des Publikums preisgegeben.
Museum im Museum, Wahrnehmung der Wahrnehmung: Der hellenistische Herkules steht nicht für noch eine exquisite Antiquitätenschau. Mit über 200.000 Objekten ein Steinbruch von Sammlungs-, Wahrnehmungs- und Alltagsgeschichte, lagert in Neapel das kulturelle Gedächtnis der Antike, Rohstoff für die ästhetischen Vorstellungen der europäischen Neuzeit. Das „Museo“ entstand aus der Kunstsammlung des italienischen Adelsgeschlechtes Farnese, der bedeutendsten der Spätrenaissance. Als Karl IV. von Bourbon-Parma, seit 1759 König Karl III. von Spanien, von der Antikensehnsucht seiner Zeit geschlagen, sie erbte, erweiterte er den Bestand um die Ausgrabungen von Pompeji und Herkulaneum. Schließlich verlegte er sie in das alte Zentrum der italienischen Aufklärung, nach Neapel.
Der standesbewußte Herrscher ließ die Funde geheim erforschen. Mit einer Publikation in der wissenschaftlichen Reihe „Antichita di Ercolano“ 1757 wollte er vor seinen Fürstenkollegen als Historienkenner brillieren. Die Sicherung des weltbildformenden kulturellen Erbes der Antike geschah auch um der feinen Unterschiede willen: Von dem Begründer der Farnese- Sammlung, Papst Paul III. in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der seine Sammlung antiker Skulpturen im Empfangshof des päpstlichen Belvedere zu politischen Repräsentationszwecken gruppierte, bis zu Karl III. im 18. Jahrhundert – alle europäischen Herrscher kämpften mit den Mitteln ästhetischer Distinktion.
Die später zum italienischen Nationalmuseum aufgestiegene fürstliche Sammlung produzierte eine an der Historie geschulte Wahrnehmung und bildete Geschmack. Die junge europäische Aristokratie des 18. Jahrhunderts machte in Neapel zur Ausbildung Station. Die Publikationen KarlsIII. lösten eine europäische Geschmacksrevolution aus und beförderten die klassizistische Fraktion der Kunsthistorie. Statt Geschichte als Etappen wechselseitiger ästhetischer Perzeption zu verfolgen, beschränken sich die Bonner leider darauf, die Systematik der neapolitanischen Schätze zu spiegeln. Dabei wäre es interessant gewesen, Beispiele der neuen Geschmacksmanier „à la Grecque“ – ob Möbel, Bronzen oder Schmuck – mit den antiken Vorbildern zu vergleichen.
Statt der klassizistischen Projektion einer idealisierten Antike brodelte unter der Asche des Vesuv eine höchst komplexe, lebenslustige Welt. Ein asymmetrischer Mund, die Hakennase eines alten Mannes, die abstehenden Ohren eines Jungen in der Porträtbüsten- reihe aus Pompejis Villen zeigen eine reiche menschliche Physiognomie. Love was all around im antiken Lebensalltag: Auf einem pompejanischen Fresko, beschläft der Mann eine lechzend rückwärts schauende Frau von hinten. Und was ist schon die in Glas geblasene Kitschlust von Jeff Koons gegen den kunstvoll in Marmor modellierten sodomistischen Akt „Pan und Ziege“. Der Hirten- und Herdengott spreizt die Hinterläufe einer Ziege und dringt mit geil gebogenem Schweif in sie ein. Welcher grüne Mittelschichtler würde sich heute wohl ein Kohlebecken neben den postmodernen Kamin stellen, dessen Ständer aus drei frechen, über priapisches Normalmaß erregten Satyrn getrieben sind? Was in Pompeji im Wohnzimmer stand, wurde in Neapel mit den Worten Herzog Francesco I. von Kalabrien „sehr schön, aber höchst unzüchtig“ in ein pornographisches Geheimkabinett verbannt.
Nach dem „Torpedo“ der Moderne, dem New Yorker Museum of Modern Art, blendet die Bundeskunsthalle in ihrer Reihe: „Die großen Sammlungen“ nun zu deren Ursprüngen zurück. So ließe sich daran anschließend auch nach der Zukunft fragen: In der MoMA-Ausstellung konnte man in dem metallischen Wirbel der futuristischen Skulpturen Umberto Boccionis verfolgen, wie schon die neuzeitliche Moderne zu einem furiosen Technoendspurt ansetzte. Nun steht man wieder vor der kopflosen Nike von Samothrake, die Boccioni geringer achtete als einen „donnernder Rennwagen“. In den sparsam und erhaben bestückten Hallen des Bundesmusentempels lockt unterschwellig eine neue Versuchung zur Klassik, zur Klarheit der reinen Form.
Vor dem sanftäugigen, grün patinierten Bronzejüngling, dem „Kithara spielenden Apoll“, jeder Zoll formvollendetes antikes Ebenmaß, drängt sich die Frage auf: Gibt es eine neue Aktualität der Antike, von Johann Joachim Winckelmanns „edler Einfalt und stiller Größe“? Ist die Antike kultureller Anker einer Welt rasanten Umbruchs und „kultureller Irritationen“, wie Bonns Intendant Pontus Hulten fragt?
Geschichte, das zeigt gerade die eigens für Bonn aus siebzehn kaum kenntlichen Bruchstücken restaurierte Silberbüste des Kaisers für sieben Monate, Galba, ist ein ästhetisches Splitterbild, die Konstruktion von Möglichkeit. Und Antike ist eine Frage der Perspektive. Auch der atemberaubend schöne Apoll ist eine römische Kopie. Die Sehnsucht nach dem einen, verbindlichen ästhetischen Maß ist dieselbe, mit dem sich die Römer nach seinem berühmten griechischen Vorbild aus dem Jahr fünfhundert vor Christus wandten. Genau so schauten die Griechen zu den Phöniziern – ein rückwärts gewandter Fortschritt.
„Die großen Sammlungen II. Unter dem Vulkan. Meisterwerke der Antike aus dem Archäologischen Nationalmuseum Neapel.“ Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Friedrich-Ebert-Allee; bis zum 5. Juni 1995. Katalog: 38 DM. Symposion zur „Renaissance in Italien“ am 16. Mai.
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