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Berliner TagebuchNichts als Propaganda

■ Berlin vor der Befreiung: 22. März 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

In drei Fenstern des KdW, Tauentzienstraße, je ein Plakat mit dem Wortlaut: „Berlin arbeitet, kämpft und steht.“ Drei einfache, sauber gekleidete Frauen machen im Weitergehen folgende Bemerkung: „Nichts als Propaganda! Berlin ,steht‘, ist geprahlt. Noch ein paar solche Angriffe wie vorgestern (18. 3.), und es stehen höchstens noch Ruinen. Viel zu arbeiten gibt es in Berlin auch nicht; sonst wären wir nicht entpflichtet. Daß Berlin kämpft, davon haben wir am Sonntag nichts gemerkt. Die Amerikaner haben ihre Bomben geworfen, wohin sie wollten. Sie sind am Himmel kreuz und quer geflogen, ohne Gegenwehr, ohne Kampf.“ Wartesaal III. Kl. Bhf. Gesundbrunnen. Ein etwa 70jähriger Fleischermeister berichtet, daß es seiner Nachbarin, deren 5jähriges Kind gestorben sei, nicht möglich gewesen wäre, einen Sarg zu bekommen. In einem Beerdigungsinstitut habe man ihr empfohlen, anstelle eines Sarges eine Tüte zu nehmen und die Leiche darin einzuwickeln. Der Mann bemerkte dazu: „Der Bande müßte man das Genick umdrehen.“

Am 22. 3., 7.30 Uhr, vor dem Tor der AEG, Osloer Straße. Ein Volkssturmführer kommt mit 30 bis 40 Frauen aus der Fabrik, alle tragen Spaten, Picken usw., die Frauen unterhalten sich laut darüber, daß es in der Fabrik keine Arbeit mehr für sie gäbe. Sie wollten dann aber entlassen werden, da sie bei der schlechten Ernährung die schwere Schanzarbeit nicht leisten könnten. Hans Dieter Schäfer

„Berlin im Zweiten Weltkrieg“, Piper-Verlag, München/Zürich 1985.

Die Berichte fassen Einzelbeobachtungen und Stimmungsberichte der Wehrmacht zusammen. Sie waren Ersatz für die im Sommer 1944 eingestellten regelmäßigen „Meldungen aus dem Reich“, die der Wehrmacht und dem Reichspropagandaministerium ein „ungeschminktes und wahrheitsgemäßes Bild“ der Stimmungslage der Bevölkerung liefern sollten.

Recherche: Jürgen Karwelat

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