: Stilles Bremsen, leises Jammern
Nach dem Mauerfall kam der Absturz: Einst finanziell voll subventioniert, fühlen sich die Berliner immer noch als von Bonn im Stich gelassene Verlierer der Einheit / Am Hofe des Kanzlers hat der Senat nichts zu bestellen ■ Von Jens König
Wer hätte das gedacht! Zwei Tage lang haben die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten vorige Woche im supermodern renovierten Preußischen Landtag in Berlin gearbeitet, aber Heimweh kam bei ihnen nicht auf. „Mir gefällt es hier so gut wie in Bonn“, freute sich SPD-Fraktionsvize Rudolf Dreßler. Geschäftsführer Peter Struck schwärmte ebenfalls: „Die Technik ist prima.“ Nur Scharpings Stellvertreterin Ingrid Matthäus-Meier hatte ein Problem: „Ich verlaufe mich dauernd.“ Auf derartige Widrigkeiten waren die Sozialdemokraten jedoch gut vorbereitet. Für den Weg zu den Toiletten standen etliche Assistenten bereit.
So sind die Bonner. Sie fühlen sich überall wohl, wo Bonn ist. Aber wenn sie das Klo nicht finden, gerät die alte Hauptstadt in Gefahr. Berlin ist für sie eine entsetzlich unübersichtliche Stadt, ein Moloch, der alles verschlingt.
Das ist noch immer so, auch wenn die große Aggressivität im Streit zwischen Bonn und Berlin nicht mehr drin ist. Aus der offenen Feindschaft ist in Bonn ein stilles Bremsen und in Berlin ein leises Jammern geworden. Die letzten Hoffnungen der Rheinländer, mit dem neuen Bundestag und vielen jüngeren Abgeordneten, die in der Bonner Republik groß geworden sind, den Umzugsbeschluß irgendwie noch einmal zu torpedieren, sind im Berliner Wind des neuen Umzugsbeauftragten Klaus Töpfer schnell verflogen.
Dennoch fühlt sich Berlin nach wie vor als ungeliebte Hauptstadt. Vor zwei Wochen erst hat Bonn die ehemalige Subventionsmetropole wieder mal am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Statt der erwarteten 148 Millionen Mark für den Berliner Kulturetat 1995 genehmigte der Haushaltsausschuß des Bundestages nur 28 Millionen. „Das ist der Punkt aufs i“, kommentiert der Berliner Bundestagsabgeordnete Thomas Krüger (SPD) die Entscheidung, „bloß das i fehlt.“ Seiner Meinung nach könne man an der Ungleichbehandlung von alter und neuer Hauptstadt ablesen, wie die Karten im Spiel verteilt sind: „Die Bonner Kultur ist gesichert, wenn der Bundestag geht. Die Berliner Kultur ist entsichert, wenn der Bundestag kommt.“
Auch wenn die Bereitschaft, nach Berlin zu ziehen, bei vielen Abgeordneten und Bonner Beamten gewachsen ist, und sei es nur aus Resignation, so ist ihr Beharrungsvermögen nach wie vor groß. Franziska Eichstädt-Bohlig, bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete aus Berlin, erlebt in Bonn, daß „die alten Ressentiments immer mal wieder aufbrechen“. So sei zu erklären, daß Berliner Kulturmillionen rigide zusammengestrichen werden und genau eine Woche später Berlin auf Drängen des Kanzlers als einheitliches Fördergebiet anerkannt wird, was Firmen im Westteil der Hauptstadt erheblich mehr finanzielle Fördermittel bringe. „Manchmal ist der vorgezogene Berliner Wahlkampf der Hintergrund für eine positive Lösung, ein anderes Mal das schlechte Gewissen wegen einer vorherigen Entscheidung gegen Berlin“, sieht es Eichstädt-Bohlig. „Es ist wie beim Roulette, nichts ist vorherzusagen.“
So hat Berlin in den zurückliegenden Wochen und Monaten neben dem Kulturhammer noch andere harte Schläge aus Bonn wegstecken müssen. Beispiel 1: Die Berliner Justiz ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die sie fast im Alleingang bewältigen muß, völlig überfordert. Sie möchte deswegen beim Landgericht neue Strafkammern eröffnen. Eine Hälfte der Kosten tragen die Länder, die andere Hälfte sollte der Bund übernehmen. Antwort aus dem Bonner Finanzministerium per Brief vom 20. Februar: kein Geld.
Beispiel 2: Berlin möchte, daß die Arbeitsmarktpolitik im Westteil der Stadt den Bedingungen des Ostteils angepaßt wird, das heißt, daß auch hier ABM-Mittel und Lohnkostenzuschüsse angewendet werden können. Kommentar von Finanzminister Waigel im März: Kommt gar nicht in Frage.
Beispiel 3: Am 4. November 1993 haben sich Verkehrsminister Wissmann, Bahnchef Dürr und der Regierende Bürgermeister Diepgen darauf geeinigt, daß der Bund für die Grundsanierung der S-Bahn 8,9 Milliarden Mark zur Verfügung stellt. Unter dieser Voraussetzung hatte das Land Berlin seine Zustimmung zur Bahnreform gegeben. Aus internen Papieren der Bundesregierung geht hervor, daß diese Summe stillschweigend und etappenweise bis heute auf 3,9 Milliarden Mark zusammengestrichen wurde.
Berlin, einst die „demokratische Insel im undemokratischen Meer“, ist trotz Mauerfalls immer noch weit weg. Genauer gesagt ist es noch weiter weg als vorher: Es liegt tief im Osten. „Bei Hofe haben wir nichts zu bestellen“, heißt es selbst in Diepgens Team.
Die Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus führt das aber auch darauf zurück, daß die Landesregierung zu oft in gebeugter Haltung und mit der Faust in der Tasche nach Bonn gefahren sei. „Der Senat ist dort immer zu leise aufgetreten“, sagt Michaele Schreyer, finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, „Bundesfinanzminister Waigel versteht aber keine leisen Töne.“
Thomas Krüger, erst seit einem halben Jahr in Bonn und vorher Berliner Jugendsenator, sieht aus der Ferne viel deutlicher, daß die jetzige Hauptstadt gegenüber der ehemaligen Hauptstadt befangen ist. „Berlin war immer Subventionsempfänger und hat sich bis heute nicht von der damit gewachsenen politischen Kultur befreien können. Fordern, Handaufhalten, Empfangen – das prägt bis heute die Berliner Politik.“ Die finanziellen Einschnitte treffen Berlin in einer Zeit, in der die Stadt ohnehin kaum Luft bekommt, weil sie den Gürtel immer enger schnallen muß. Seit 1991 strich der Bund seine Hilfen für den Berliner Haushalt von jährlich 14,5 Milliarden Mark schrittweise auf jetzt null zusammen, dazu kommen die Streichung der Berlinförderung (15 Milliarden) und der Arbeitnehmerzulagen (10 Milliarden) sowie diverser Subventionen, beispielsweise bei Post, Fernmeldeverkehr und Flugverkehr (rund 70 Milliarden). Entsprechend sind die Gesamtschulden Berlins auf heute 38,5 Milliarden Mark gestiegen, 1998 werden es 61 Milliarden Mark sein; 18.000 Mark für jeden Bürger.
Die Folgen schlagen in Berlin so stark und unmittelbar auf das Einkommen und den Lebensstandard der Menschen durch wie in keiner westdeutschen Stadt. Das gilt für die Ostberliner ebenso wie für die Westberliner. Im Westteil der Stadt ist die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit inzwischen sogar höher als im Ostteil, wo einiges über ABM abgefangen wird. Deswegen will der Senat für Westberlin dieselben Förderbedingungen auf dem Arbeitsmarkt wie im Osten. „Nicht nur Ost-, sondern auch Westberlin ist zum sechsten neuen Bundesland geworden und stellt sich auch noch hinten an, wenn es Geld für den Osten zu verteilen gibt“, so Thomas Krüger. Um so stärker ist die Kritik an der protzigen Metropolenplanung des Berliner Senats. Der hat die ganze Stadt mit über 100 Großprojekten überzogen – vom Großflughafen bis zum Tiergartentunnel, von der Entwicklung von Neubausiedlungen bis zur Ansiedlung neuer Industriezentren. Viele Politiker und Wirtschaftsexperten halten das für ein unkalkulierbares Abenteuer, das Milliarden über Milliarden verschlingt und geradewegs in die öffentliche Pleite führt.
Bei diesen Großprojekten gebe es etliche „ungedeckte Schecks“, sagt Michael Cramer, anerkannter Verkehrspolitiker der Berliner Bündnisgrünen. Berlin mache sich dabei immer wieder von Entscheidungen anderer abhängig, ob Olympia, Hauptstadt oder Länderfusion mit Brandeburg. „Der Senat tut so, als sei für Berlin das Beste gerade gut genug, und Bonn soll alles mögliche noch mit bezahlen“, so Cramer, der dabei besonders an den geplanten Neubau eines Berliner Großflughafens denkt. Aufgrund unkalkulierbarer finanzieller Risiken – die Kosten für das Megaprojekt werden mittlerweile auf über 15 Milliarden Mark geschätzt – hat der Bundesrechnungshof vor zwei Wochen die Bonner Regierung gewarnt und ein Aussteigen des Bundes aus diesem Projekt zu bedenken gegeben. Verkehrsminister Wissmann ist schon dabei, die Notbremse zu ziehen. Cramer kann da nicht verhehlen, „daß ich über manche Kritik aus Bonn richtig froh bin“.
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