: Ende einer Zwangsehe
In Wittstock erinnert ein Museum an die, die man nie sah, nie wollte und kaum vermißt: russische Soldaten ■ Von Thorsten Schmitz
Die Musik ist Trumpf, und so verliert Dr. Dost jeden Samstag vormittag die Bodenhaftung. Regelmäßig sonnabends nämlich, von 11.05 Uhr bis 11.50 Uhr, macht sich Herr Dost von allen und allem frei, exakt 45 Minuten lang empfängt er den Schlager-Bombast im Deutschlandfunk „Lieder von der Waterkant“. Das verhaltene Tremolo von Hans Albers und Lale Andersen verbucht er im magistralen Bildungston unter seiner „Leib- und Magensendung“. Die manipulativen Melodien erquicken sein Herz. Erst recht, wenn er dabei im Vorgarten noch Unkraut rupfen und Rosenrabatte abzirkeln darf. Dann nämlich ist auch morgens um elf die Welt noch so, wie das heitere Gemüt des Dr. Dost, Wolfgang Dost, sie bevorzugt: in Ordnung.
Auf den Boden der Tatsachen holten ihn, viel zu oft, Tieffliegerrabauken zurück. Schallgeschwinde Triebwerke diverser MiG-Fabrikate auf ihren Erkundungsflügen über der brandenburgischen Wüste zerschnitten jahrelang Dosts wochenendliche Idylle. Den 600 Meter von seinem Heimwerker-Bungalow entfernt stationierten sowjetischen Streitkräften war es erlaubt, ganztägig dienstags und donnerstags sowie sonnabends bis 13 Uhr mit Karacho den Luftraum über Wittstock zu okkupieren.
Ausgerechnet sonnnabends.
Vor 34 Jahren entschied sich Herr Dost, 54, für ein Leben zwischen Hamburg und Berlin, dort, wo Ostdeutschlands Armenhaus angrenzt, Mecklenburg-Vorpommern. Er wurde einer von inzwischen 14.000 Wittstockern. Allerdings einer, der auf der Straße alle fünf Minuten gegrüßt wird, als sei er der Bürgermeister zu Fuß. Denn Herr Dost bekleidet in zehn Vereinen vorstandsähnliche Funktionen und ficht als Mitglied des Kulturausschusses im Stadtparlament für engere Straßen. Seine wichtigste Aufgabe allerdings ist sein Hauptamt als Museumsdirektor.
Vier Räume und einen Flur hat Dr. Dost zu einem schmucken Heimatmuseum gestaltet. Eines, das an etwas erinnert, was man in Wittstock kaum vermißt: an die erst kürzlich abgezogenen russischen Soldaten. Märker, die „Verbraucherzeitung für die Ostprignitz“, aktiviert für diesen Umstand kanzleramtliche Sprachgepflogenheiten: „Geschichte wird wach.“
Doch allzu schmerzhaft ist der Verlust für die Wittstocker nicht. Die Moskauer Losung „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ haben die Siedler von Wittstock um ein giftiges Detail variiert: „Von der Sowjetunion lernen heißt siechen lernen.“
Der Große Bruder bevölkerte den Fliegerhorst, soldatisch herb, mit bis zu 8.000 Rotarmisten, versteckt hinterm Stadtrandwald. 49 Jahre hielten die Männer und Frauen des 33. Belorussischen Jagdfliegergeschwaders das 400 Hektar große Gelände besetzt, bis das Haltbarkeitsdatum der Sowjetunion unwiderbringbar überschritten war. Die einfachen Soldaten fristeten ihr Dasein, wie überall üblich in der DDR, in den plattennormierten Kasernen, streng abgeschottet vom ortsansässigen Ost-Volk, private Kontakte gab es allenfalls zwischen höheren Chargen von Armee und SED. Einen echten Russen zu Gesicht bekamen die Wittstocker allenfalls in der Schlange. Und garantiert, das kolportieren noch heute Bäcker, Tankstellenbesitzer und Fremdenverkehrsamts-Angestellte mit Verve, hatten die Bomberpiloten entscheidende Minuten früher Wind davon bekommen, daß es irgendwo innerhalb der 26 Hektar Altstadtkarree, neue Schuhe oder Orangen zu kaufen gab. Wer einen solcherart bevorteilten Soldaten auch nur wagte anzumosern, der mußte sich „Du Faschist!“ gefallen lassen.
So was zementiert Zwietracht – und förderte, im letzten Hochsommer, das Gefühl „freudiger Erleichterung“ zutage, wie Dr. Dost plausibel doziert. Die machte sich nämlich breit, als am 7. April zum letzten Mal MiGs tiefbraune Rußspuren in den Himmel überm märkischen Sand zeichneten und sich via Ribnitz-Damgarten nach Andreapol verflüchtigten, 350 Kilometer nordwestlich von Moskau. Wie es sich dort lebt, weiß niemand. Aus den Augen, aus dem Sinn: In Wittstock lebt kein einziger Russe mehr. Als hätte es sie nie gegeben.
Das tausendjährige Städtchen an dem Rinnsal Dosse, das aus vier waagerechten und vier senkrechten Straßen besteht, ertrug erfolgreich die wendebedingte Einführung von Verkehrsampeln sowie drei mittelsensationelle Katastrophen. 1638 raffte die Pest 1.500 von anno dazumal insgesamt 2.000 Einwohnern dahin, 1716 verwüstete ein flächendeckender Brand drei Viertel aller Häuser, und im 20. Jahrhundert siedelten, uneingeladen wohlgemerkt, marsähnliche Menschen in grünen Uniformen im Landkreis Ostprignitz-Ruppin, die reden konnten, aber mit niemandem sprachen. Und die „uns traktierten“, komprimiert Dr. Dost 49 Jahre und mindestens dreifach so viele akustisch getrübte „Lieder von der Waterkant“.
Geknickt hat das stolze Volk im letzten Jahr ostdeutschen Boden verlassen, weil ihm Leitbild und Lenin abhanden gekommen waren, und so konnte auch Wittstock sich seinen gesamtdeutschen Aufgaben widmen. Dazu gehören solarbetriebene Parkscheinautomaten auf Altstadt-Trottoir, ein Rentenversicherungs-Infomobil auf dem Marktplatz sowie eine Arbeitslosenquote knapp über 20 Prozent. Dem Obertrikotagenbetrieb, dem Küchenmöbelkombinat und dem Metallurgie-VEB war es nicht vergönnt, die Wendewehen zu meistern.
25.000 Einsätze flog Wittstocks Rote Armee jährlich über der Heide-Region, so was vergißt man nicht leicht. Und so musealisiert Wolfgang Dost, ein Jahr nach dem Abzug der streitbaren Streitkräfte, deren unheimliche Existenz in den Räumen seines Heimatmuseums. Dosts Lieblingsära beginnt irgendwo im Alten Rom und endet im Dreißigjährigen Krieg. Was danach Einzug fand in Schulbücher, interessiert ihn nur peripher. Sagt er und widerspricht sich selbst. Denn warum sonst hat er bei Bundeswehr und Bundesvermögensamt einen Freibrief zum Stöbern auf dem Flugplatz bekommen und bis dato insgesamt siebzigmal das Gelände nach Hinterlassenschaften der dort stationierten Russen abgesucht?
Getrieben zur Spurensuche, zum Zusammenpuzzeln eines sozialverträglichen Russenbildes hat ihn die Neugierde nach dem wahren Leben der von oben verordneten Nachbarn – und durchaus auch die private Faszination am Katalogisieren.
„50 minus 1“, das kryptische Ausstellungsmotto avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Kassenschlager. Schulklassen und westdeutsche Kurzurlauber auf dem Weg zur Ostsee, Kegelvereine und französische Studenten studieren nun in den vier Räumen und dem einen Flur, was die Wittstocker Russen für ihren Um- und Rückzug nach Andreapol nicht mehr brauchten. Rasierpinsel und Triebwerksverkleidungen hat Dr. Dost in den verwilderten Kasernen des verwaisten Fliegerhorsts dingfest gemacht, Schuh- und Zahnbürsten, Zeitungen und Waschlappen, Teekannen, in denen noch loser schwarzer Tee trocknet, und Emaillebecher, Tarnnetze und feldgraue Soldatenmäntel, den abgestoßenen Bürotisch des letzten Oberkommandierenden Anton Nikolajewitsch Selin und dessen Schreibmaschine mit kyrillischer Tastatur, Stiefel, Stempel, Ausweise, Fliegerhelme mit Sauerstoffschläuchen und Kascha-Suppenbüchsen.
Das autodidaktisch angeordnete Sammelsurium halten die Antipoden Lenin und Gorbatschow zusammen: Ihre Konterfeis hängen gerade mal zehn Zentimeter auseinander und überm Arbeitsplatz von Oberst Selin. Außerdem erläutert Dr. Dost anhand von Schautafeln, daß die Soldaten und Offiziere unter sechs verschiedenen Frisurentypen auswählen konnten; einfachen Handlangern der Armee wurden im Sommer zusätzlich Glatzen gestattet.
Großen Stolz hegt Dr. Dost für ein Video, das man für 40 Mark kaufen kann und das von russischen Jagdfliegern höchstselbst gedreht wurde. Es flimmert ohne Unterlaß über den museumseigenen Bildschirm, und alle Kinder und Jugendlichen bleiben am bewegten Bild kleben, obgleich es sich um die Kopie einer Kopie handelt. Das Original weckt mutmaßlich in Andreapol Sentimentalitäten. Es zeigt die letzten Momente auf dem Flugplatz, von 11 Uhr bis 11.47 Uhr, sekundiert Dost historische akkurat. Wie die Fahne eingeholt wird, die Soldaten im Stechschritt die Startpiste abklappern und die Reiseroute zurück in die Zukunft nach Andreapol auf dem Betonboden einzeichnen, als hätten sie keine Landkarten. Vor allem aber zeigt es unerschöpflich MiGs, die Sturzflüge mimen und Loopings drehen. Auf einem besonders für Wittstocker erträglichen Niveau, denn die Triebwerke sind nicht zu hören, dafür die Scorpions und die Filmmusik von „Top Gun“.
Wolfgang Dost starrt jedesmal auf den Bildschirm, als sähe er das Abschiedspotpourri zum ersten Mal. Tatsächlich kennt er jede Sequenz auswendig. „Gucken Sie, jetzt vergißt der General seine Haltung und läßt den Arm einfach fallen.“
„Die Russen kamen – Die Russen gingen.“ So schlicht und nur im ersten Augenblick einfallslos betitelt Dost den Versuch einer Annäherung an das unbekannte russische Wesen. Oder handelt es sich um eine Art Trauerarbeit, die Wittstock erst noch leisten muß, um richtig Abschied nehmen zu können? 49 Jahre Zwangsehe konserviert in einem Heimatmuseum, da ist es mutmaßlich heilpädagogischen Erwägungen zuzuschreiben, daß von den 570 Ausstellungsgegenständen die allerwenigsten die Konfrontation suchen.
Und dennoch verschlägt es den Besuchern die Sprache, womöglich auch wegen der öffentlich zur Schau getragenen Diskrepanz zwischen „superprimitiver Alltagstechnik und hochmodernen MiGs“, die besonders Dr. Dost jedesmal in den Bann zieht, wenn er in den Kasernen schnüffelt. Im Gästebuch jedenfalls beschränken sich die ausführlichsten Kommentare auf wahlweise „Es war schön!“ und „Es war wunderbar!“. Der einzige Redakteur des Prignitz-Reports mosert in seinem Blatt verhalten über das ausgesucht harmlose Bild vom Russen an und für sich, das den Besuchern in der Ausstellung vermittelt werde. Aber das war's dann auch schon an Stänkertum.
Was vom Russen übrigblieb, liegt hinter Vitrinen im Heimatmuseum begraben – und läßt sich hören auf der 2.040 Meter langen Startpiste: ein nie gehörtes Vogelgepiepse. Wittstock also könnte wieder zu sich finden. Könnte, denn die vierte Katastrophe steht bereits bevor. Die Bundeswehr wird etwa 1.500 Männer und einen Teil ihrer Tornados in den grasbewachsenen MiG-Hangarhügeln parken.
Daß die lärmenden Tornados dann auch sonnabends über Dr. Dosts Domizil tieffliegen, steht zu befürchten.
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