: Vom Nürnberger Kodex zur Nürnberger Erklärung
■ Ärzte wollen die öffentliche Diskussion über einen neuen Medizinkodex initiieren
Die Beschäftigung mit der braunen Vergangenheit scheint bisher wenig intensiv gewesen zu sein. Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, erwähnte süffisant, daß es erst im Jahre 1989 auf dem Deutschen Ärztetag gelungen sei, das Thema Nazi-Medizin überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen. „Besonders auch die bayerische Ärztekammer tut sich mit der Aufarbeitung schwer“, meinte Huber letzte Woche in Nürnberg, wohin er als Vorstand der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) gekommen war, um ein ehrgeiziges Projekt der Organisation vorzustellen: Bis zum kommenden Jahr soll ein neuer medizinischer „Verhaltenskodex“ erarbeitet und im Oktober 1996 auf einem von dem IPPNW veranstalteten internationalen Kongreß als „Nürnberger Erklärung“ verabschiedet werden.
In Nürnberg faßten 1947 jene Richter, die zwei Jahre beim Nürnberger Ärzteprozeß über die Taten deutscher Ärzte zu urteilen hatten, einige ethische Leitlinien zum „Nürnberger Kodex“ zusammen. Der blieb zwei Jahrzehnte das wichtigste Dokument für ethische Fragen in der medizinischen Forschung. Erst 1964 wurde er abgelöst von der Deklaration von Helsinki, erarbeitet vom Weltärzteverband, der diese 1975 in Tokio und zuletzt dann 1989 in Hongkong abänderte. Doch die ethischen Leitlinien ärztlichen Handelns scheinen heute angesichts der rasanten Fortschritte der Gentechnik und der Transplantationsmedizin mehr denn je ins Schwimmen zu geraten.
Nach Meinung des IPPNW muß spätestens seit Bekanntwerden der geplanten Bioethik-Konvention des Europarates die Regelung biomedizinischer Forschung am Menschen unbedingt öffentlich verhandelt werden. Huber kritisierte in diesem Zusammenhang die Vorstöße auf europäischer Ebene. Nach seinem Verständnis dürften beispielsweise medizinische Versuche nur dann vorgenommen werden, wenn eine bewußte und wissende Entscheidung der betroffenen Menschen vorliege.
Die IPPNW möchte eine breite gesellschaftliche Diskussion medizinischer Konventionen anregen. Eine „Redaktionsgruppe“, besetzt mit ÄrztInnen, wird einen Vorschlag erarbeiten, ihn innerhalb der IPPNW und der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen und entsprechend weiterentwickeln. Während der kommenden eineinhalb Jahre soll sich das Gremium wesentlich auf Anregungen der „Basis“ stützen.
Auf die Frage, was denn so eine Nürnberger Erklärung im nächsten Jahr konkret enthalten könne, gab sich Huber kämpferisch: „Es wird darum gehen, daß wir eine antikommerzielle Orientierung in der Medizin durchsetzen können, denn anders ist die Würde des Menschen und die Gefahr eines Mißbrauchs von Möglichkeiten der Medizin nicht zu bannen.“ Martin Unfried
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen