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■ Frankreich muß seine politische Landkarte neu zeichnenAuf der Suche nach der verlorenen Mitte

Eine „schöne Lektion in Sachen Demokratie“ sei das, kommentierte einer jener Pariser Politprofis, die das Wahlergebnis völlig verwirrt hatte. Er gehört zu der Elite von Journalisten, Demoskopen und Politikern der V. Republik. Zu jenen Leuten, die aus denselben Schulen kommen, dieselben Lebensformen und Freunde teilen und sich seit Jahrzehnten als ideelle Gesamtvertreter ihres Landes verstehen. Das Wahlergebnis macht auf einen Schlag klar, daß diese Elite nur noch einen Teil ihrer Gesellschaft repräsentiert.

Daß 40 Prozent der Franzosen sich innerhalb des traditionellen Spektrums nicht mehr zu Hause fühlen. Daß sie Kandidaten wählen, die radikal andere Gesellschaftsmodelle vertreten. Und das, obwohl es dieses Mal nicht um „unwichtige Wahlen“ ging – etwa die zum Europaparlament oder in die Rathäuser –, sondern um den alle sieben Jahre anstehenden wichtigsten Urnengang in der französischen Republik.

Die drei „großen“ Kandidaten Balladur, Chirac und Jospin sind sich im wesentlichen einig, daß die Grundlinien der französischen Politik fortgesetzt gehören: Die Einbindung in das Europa der Maastrichter Verträge, die Verfassung und Institutionen der V. Republik, das marktwirtschaftliche Instrumentarium der Krisenbekämpfung. Die Kandidaten des rechten und linken Randes stellen – mit unterschiedlichen Stoßrichtungen – genau diese Grundlinien französischer Politik in Frage. Der Rechtsextreme Jean- Marie Le Pen ist nicht nur gegen die Immigration und gegen das Europa von Maastricht, sondern er will auch eine neue – die VI. – Republik gründen. Der Rechtsnationale de Villiers will die Abtreibung verbieten, die Immigration reduzieren und Frankreichs alte – voreuropäische – Grenzen wiederherstellen. Die Trotzkistin Arlette Laguiller will die Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa gründen und den Kapitalismus durch „dirigistische und autoritäre Arbeiterkontrolle“ ersetzen. Der Kommunist Robert Hue will Maastricht neu verhandeln und die Grüne Dominique Voynet will wesentliche Teile der Verfassung ändern.

Von dem „Ende der Ideologien“, das die beiden konservativen Kandidaten im Wahlkampf diagnostiziert hatten, kann angesichts derartiger ideologischer Kämpfe in der französischen Gesellschaft gar keine Rede sein. Auch nicht davon, daß sich der künftige Präsident – ob er nun Chirac oder Jospin heißt – auf eine stabile Mehrheit im Volk stützen könnte. Beide haben im ersten Wahlgang weniger Stimmen bekommen, als je zuvor ein künftiger Präsident auf sich vereinen konnte. Und beide müssen in den nächsten sieben Jahren mit gesellschaftlichen Widerständen ganz neuer Art rechnen. Dorothea Hahn, Paris

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