: Die Giftgasanschläge haben das „sicherste Land der Welt“ in eine unerwartete Identitätskrise gestürzt. Die Ideologie der Aum-Sekte spiegelt japanische Ängste, wie sie in Comic strips längst millionenfach verbreitet sind Aus Tokio Georg Blume
Variationen der Jugendkultur
Wie jedes Jahr blühten in Japan im April die Kirschen. Doch das traditionelle Blütenfest „hanami“, das unter normalen Umständen zu dieser Jahreszeit die Phantasien und Alltagsgespräche der meisten Japaner beherrscht, fand unter Freunden, Nachbarn und Firmenkollegen diesmal kaum Erwähnung. Sogar der Premierminister verzichtete auf sein Gartenfest. Mitten in der Kirschblüte fiel dem Schriftsteller Kaoru Takamura auf, wie sein Land in Agonie verfiel: „Uns Japaner erfaßt eine große Traurigkeit. Wir haben Angst, daß wir uns selbst vor den Gefahren nicht zu schützen wissen. Ich fühle ganz stark, daß wir Japaner wirklich von niemand beschützt werden.“
Takamuras Essay wurde in der größten Zeitung des Landes, Yomiuri, veröffentlicht und fand allseitigen Beifall. Er traf die Stimmung im Land. Seit Wochen fühlen sich viele Bürger einer bislang unbekannten Gefahr ausgeliefert: Japans neuem Terrorismus.
Wie in Oklahoma ist diese Gefahr im Schoß einer Nation gewachsen, die sich bisher nur von außen bedroht sah: Auch in Japan vermutete man hinter dem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn, bei dem am 20. März zwölf Menschen starben und fünftausend verletzt wurden, zunächst ausländische Täter. Inzwischen aber hat die Polizei ihre Ermittlungen auf Mitglieder der Sekte „Aum Shinrikyo“ (Erhabene Wahrheit) konzentriert.
Die Anschlag und die Folgetaten haben den Alltag in der Metropole verändert. Die sonst unsichtbare Polizei patrouilliert in allen öffentlichen Gebäuden. Öffentliche Mülltonnen sind längst entfernt worden oder mit Plastikfolie überklebt. Die noch benutzbaren Papierkörbe werden alle zehn Minuten von Angestellten nach auffälligen Gegenständen durchsucht. Auf jeden ungewohnten Geruch reagieren die Menschen sensibel. Frauenzeitungen raten, auf stark riechende Kosmetika zu verzichten, um Mitbürger nicht unnötig zu erschrecken.
Die Polizei nährt dabei auf ihre Art und Weise die Frustation der Öffentlichkeit. Seit den Anschlägen auf die Tokioter U-Bahn hat sie jede öffentliche Stellungnahme über den Stand der Ermittlungen abgelehnt. Das entspricht dem üblichen Vorgehen der japanischen Behörden, die Anklage immer erst dann erheben, wenn der Täter bereits festgestellt ist. Auf diese Art und Weise führen in Japan bislang 99 Prozent aller Festnahmen zur anschließenden Verurteilung. Aufgrund der neuen Terrorängste entsteht freilich inzwischen bei vielen Japanern der Eindruck, daß die Polizei nicht genug unternimmt. Als der 29jährige Hiroyuki Jo vergangene Woche mit einem Tischlermesser auf den im Zusammenhang mit den Anschlägen verdächtigen Sektenführer Hideo Murai losging und ihn vor den Augen tatloser Polizisten und sensationslustiger Fotografen in aller Ruhe ermordete, blieb die Empörung in der Öffentlichkeit aus. Längst hatte man erwartet, daß etwas geschehen mußte — wenn nicht durch die Polizei, dann eben so.
Angst und Verzweifelung rühren dabei nicht nur aus der unmittelbaren Bedrohung durch weitere Terrorakte her. Auf die Gesellschaft verunsichernd wirken vor allem die Verdächtigen selbst. Als „verrückte Leute mit verrückten Taten, die sich nur zufällig in Japan zusammenfanden“ charakterisierte der Economist die mutmaßlichen Verantwortlichen der Attentate. Doch genau so einfach wollen es sich die meisten Japaner nicht machen. Denn für viele erscheinen die inzwischen auf allen Fernsehkanälen fast täglich interviewten Sektenführer von Aum Shinrikyo als das, was sie neben ihren sonderlichen religiösen Aktivitäten auch sind: brillante Intellektuelle mit Studienabschlüssen von den besten Universitäten des Landes. Wie konnten gerade sie, die das strenge japanische Erziehungssystem bereits für die besten Jobs in den Tokioter Ministerien ausgelesen hatte, auf so abwegige Bahnen geraten?
Die liberale Tageszeitung Asahi nannte den Teufel als erste beim Namen: Als „Zerrspiegel unserer modernen Gesellschaft“ bezeichnete das Blatt die verdächtigten Sekte und empfahl den Lesern, nicht wegzuschauen: „Der Sektenkult von Aum setzt sich aus den unterschiedlichsten Variationen einer bisher als peripher betrachteten Jugendkultur aus den siebziger und achtziger Jahren zusammen. Hier begegnen sich Mystizismus und Wissenschaft, und führen den Menschen in einen Mix aus Science-fiction und Wirklichkeit.“
Wer die Bücher des vierzigjährigen Aum-Gurus Shoko Asahara gelesen hatte und sich in der japanischen Comic-Kultur ein wenig auskennt, wußte sofort worauf die Zeitung anspielte: Im Glauben der Aum-Mitglieder ist ein Weltbild auszumachen, das in kaum abgewandelter Form seit Jahrzehnten millionenfach unter Japans Jugend verbreitet wird.
Ausgangspunkt der Aum-Philosophie ist der nahende dritte Weltkrieg (im Sekten- wie im Science-fiction-Jargon „Harumagedon“ genannt). Daher die konkreten technischen Vorbereitungen der Sekte auf den chemischen, biologischen und atomaren Krieg. Sie gelten dem Leben nach Harumagedon. „Ich werde mich am dritten Weltkrieg beteiligen“, verspricht Asahara seinen Anhängern immer wieder. Videoclips der Sekte zeigen ihn als einzigen Überlebenden des imaginären Krieges.
Genauso spielen viele Klassiker des japanischen Comics, von denen einige auch in europäische Sprachen übersetzt wurden, nach einem für die Menschheit zerstörerischen Krieg: Beispiele sind Titel wie „Akira“, „Naushika“ und „Kosmoship Yamato“. Aus diesen Büchern, die in Japan allesamt erfolgreich verfilmt wurden, hat die Aum-Sekte nicht nur ihre Zukunftsszenarien, sondern auch ihr Vokabular gespeist: So surrt in jeder Niederlassung der Sekte ein Ventilator, den die Mitglieder als „Cosmo-cleaner“ bezeichnen. Er soll Aum-Leute für den von Guru Asahara vorhergesagten Fall eines amerikanischen Giftgasangriffs schützen. Ähnliche Wunder bewirkt der Cosmo-cleaner im Science-fiction-Comic Kosmoship Yamato, wo er den Menschen als letzte Waffe gegen die Radioaktivität das Überleben sichert.
Ohne es ihren Mitgliedern zu verbergen, nehmen die Aum-Priester auf die Science-fiction-Welt aus der Trivialliteratur Bezug: „Unsere Comic-Autoren drücken das Interesse an der Zukunft der Menschheit aus und sind die wahren Propheten des modernen Zeitalters“, schreibt die Mitgliederzeitung von Aum. Daß solche Visionen, die inzwischen auch über interaktive Videospiele verbreitet werden, bei der japanischen Jugend tiefe Eindrücke hinterlassen, steht für Gesellschaftswissenschaftler außer Frage.
„Als ich auf die Aum-Gruppe 1990 aufmerksam wurde, erschien mir ihre Bewegung von einem ungefährlichen postmodernen Kitsch behaftet zu sein“, erinnert sich der Kiotoer Soziologe Akira Asada. Sein Urteil von damals mußte Asada inzwischen revidieren: „Aum Shinrikyo hat sich als ein radikal neues Gesellschaftsphänomen entpuppt, mit dem wir alle erst umgehen lernen müssen.“
Für den Politologen Masayuki Takagi von der Tokioter Teikyo- Universität war es in den letzten Wochen eine Offenbarung, als seine Studenten „die Aum-Geschichte im Fernsehen unbesorgt wie einen Comic verfolgten“. Der Religionswissenschaftler Sadao Asami von der Gakuin-Universität in Tohoku stellt fest: „Die Tatsache, daß heute die gesamte Wissenschaft dem Menschen unzugänglich und mystisch erscheint und der Weltuntergang als Konsequenz von Umweltzerstörung und Krieg jederzeit denkbar ist, weckt bei jungen Menschen ein fast natürliches Interesse an Krisenvoraussagen und Rettungsversprechen.“
Einig sind sich die Wissenschaftler, daß der Aum-Terror eines Tages über Japan hinausgehen kann. Für den japanischen Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe waren schon Comics und Science-fiction-Romane Teil einer „globalen Subkultur“. Und tatsächlich erscheint an dem Verhalten der Aum-Mitglieder kaum etwas japanspezifisches zu sein. Der erste ernsthafte Versuch der Sekte, im Ausland Wurzeln zu fassen, zeigte in Rußland unerwartet schnelle Erfolge. Dort zählt Aum nach eigenen Angaben inzwischen 30.000 Mitglieder, doppelt so viele wie in Japan. Drei Elemente der Aum- Philosophie sprechen nach Auffassung von Masayuki Takagi die Jugendlichen in allen hochentwickelten Industrieländern an: „Das Versprechen übermenschlicher Kräfte, die Versuchung neuester Technologien und die Aussicht seelischer Heilung.“
Viele ältere Japaner, die seit dem Zweiten Weltkrieg davon überzeugt waren, daß ihre Nation sich mit der Friedensverfassung von 1946 für immer zum Pazifismus bekannt hatte, mußten solche Offenbarungen aus der Vorstellungswelt der Jüngeren besonders erschrecken. Bisher erschien ihnen „das sicherste Land der Welt“ als eine friedfertige Insel der Seeligen, die nur gelegentlich von unwillkommenen Boat-people aus Vietnam und amerikanischen Handelskriegern heimgesucht wurde. Sogar das Erdbeben von Kobe verklang in diesem Jahr wie ein vorübergehender Schock, den man aus der Geschichte gewohnt war. Auf einen Jugendterror, dessen Wurzeln möglicherweise tief in der Massenkultur verankert sind, ist dieses alte Japan indessen unvorbereitet. Japans populärster Fernsehmoderator, Hiroshi Kume, beendete eine zweistündige Sondersendung seines Senders über die Aum-Sekte ohne allzu großen Optimismus. „Aum“, sagte Kume, „das ist Japan genau fünfzig Jahre nach dem Krieg.“
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