■ 1. Mai – im Osten viel Neues: Westberlin suhlt sich in Nostalgien
Wie jeder, so war auch dieser 1. Mai ein gesellschaftspolitisches Event, das allerlei Indizien zur allgemeinen Bewußtseinslage in der Hauptstadt lieferte. Vor allem zeigte sich eines: der Riß, der Berlin immer noch teilt – in Gewinner der sogenannten Einheit, den Osten, und in die Verlierer, den Westen.
In Prenzlauer Berg zum Beispiel war was los. Tausende junge und auch ältere Menschen (Christian Ströbele) amüsierten sich, hatten auch was zu erzählen und erzählten also übermüdet und mit leuchtenden jungen Augen immer wieder vom Fest, das sie doch eigentlich hatten feiern wollen, von entseelten Bullen, die dann kamen, von Fluchten und Tränen und Blessuren. Junge Philosophiestudenten warfen stolz das erste Mal Steine. Eine Schülerin, die in der Walpurgisnacht ihr politisches Coming-out erlebt hatte, betrank sich im „Zosch“. Hippiemäßig kreisten am Humannplatz Joints von einer in Westberlin bislang nicht gesehenen Größe. Schön war's, und am Abend zog man noch mal los, um auf einen ganz echt handgreiflich tückischen Gegner zu treffen.
In Kreuzberg dagegen stand man nächtlings vereinzelt und entfremdet an den Ecken und wartete traurig. Still hielten sich hundert Wannen im Hintergrund. Kleine Bulleneinheiten joggten leise um den Görlitzer Bahnhof, als wollten sie niemanden aufwecken. Die Ampeln waren stundenlang abgeschaltet. Ganz selten nur sah man Blaulicht von weitem. Wenn man dann hinrannte, war schon nichts mehr zu sehen. Es passierte schlichtweg – gar nichts. Es schien, als wollten die Bullen durch schweigende Präsenz beeindrucken. Selbst die Absperrung eines Teils der Oranienstraße war kein Grund zum Aufruhr. Als ich gegen Mitternacht enttäuscht nach Hause radelte, hörte ich, wie zum Hohn, von weitem vereinzelt kurze Sirenen.
Da konnte man schon melancholisch werden. Irgendwie war das alles bezeichnend und ein Indiz für die große Ratlosigkeit, mehr noch, für die Depression, die in Westberlin überall um sich greift. Während sich die durchschnittlich um rund 15 Jahre ältere Kreuzberger Szene also greisenhaft und tagtäglich in trübseligen Westberlin-Nostalgien und Beziehungsgesprächen suhlt, brodelt im Osten das Leben. Das läßt sich nicht nur am 1. Mai nachprüfen. Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen