piwik no script img

18. Arrondissement

Manche mögen's dunkel: „Ich kann nicht schlafen“ von Claire Denis – voilà, le Großstadtkino! Paris für Somnambule  ■ Von Andreas Becker

Drei oder vier Tage dürfte Daiga wohl gebraucht haben, mit ihrem alten Wolga von Litauen nach Frankreich zu fahren. Daiga kommt früh morgens in Paris an, sie hat eine Kippe im Mund, stangenweise Zigaretten im Kofferraum und Kaviar. Sie hört Radio, irgendwas von Mord und Totschlag, es wird langsam hell. In ihrem Zimmer, oder irgendeinem schäbigen Zimmer in Paris, werden gerade die Fliegen mit einem feuchten Lappen bekämpft. Paris ist großstädtisch gemein zu seiner neuen Einwanderin: die Bullen verscheuchen sie und ihren Wolga vom Parkplatz, die Croissant- Händler muffeln vor sich hin. Trotzdem: endlich angekommen.

Ein Großstadtfilm will eigentlich die Geschichte aller Einwohner erzählen. Das geht aber irgendwie nicht. Also begnügt man sich zwangsläufig mit einigen wenigen. „Ich kann nicht schlafen“ (J'ai pas sommeil), ein Film von Claire Denis, versucht, wie natürlich hingeworfen, zwischen den Linien eines Stadtplans zu lesen.

Ein Film, der nachts spielt, braucht Morde, so wie er rotes Licht braucht, in dem fremde Körper verschmelzen. Stroboskoplicht und dröhnige Musik, in der der Mann endlich Frau sein kann, auch ohne Netzstrümpfe. Wie im Nebenberuf, wie einer abends Pizza ausfährt, kann er auch Mörder sein, alte Damen haben viel Geld in der Wohnung.

Im Haus der Tante von Daiga, bei der sie die ersten Tage wohnt, wird eine Rentnerin tot aufgefunden. Und weil in einer Stadt alles mit allem zusammenhängt, hat das auch etwas mit Daiga zu tun. Und mit der großartig gespielten (wahrscheinlich ist sie keine Schauspielerin) Hotelwirtin, die in ihrem französisch akzentuierten Englisch mit professioneller Höflichkeit und unendlicher Distanz, Zimmer an Touristen vermietet: „Brrrreakfast is included.“ Als das schwule Pärchen wieder nicht das Hotelzimmer bezahlen will, drückt sie großzügig ein Auge zu: „Sind die nicht süß?“

Zwei, eine weiße Frau, ein schwarzer Mann liegen auf dem Dach ihres Hochhauses, ihre Hände umklammern sich. Hinter den beiden flackern die roten Buchstaben der Neonreklame. Weil die Nacht nicht nur hier ist, sondern auch da, wo sich Menschen treffen, die nicht schlafen können oder wollen, oder die dabei nicht allein sein wollen, sehen wir den schwulen Camille in der Nachtbar tanzen. Das ist schön.

Sein Bruder will nach Martinique auswandern, da kann man „nackt rumlaufen und braucht kein Geld“. Das findet seine weiße Freundin gar nicht lustig, denn ihr gemeinsames Kind will er auch gleich noch mitnehmen.

„Ich kann nicht schlafen“ ist nicht der neueste Aufguß des beliebten Serienmördermotivs. Obwohl die Regisseurin Claire Denis zugibt, sich von dem Fall des Pariser Frauenmörders Thierry Paulin, der als „little old lady killer“ durch die Presse geisterte, inspiriert haben zu lassen. Denis über den realen Mörder: „Wir hatten einen negativen Eindruck von ihm, vom Beginn bis zum Ende. Eine Person am Rande der Gesellschaft seit seiner Kindheit. Schwarz, Partybesucher, homosexuell, Dealer und dann auch noch Aids.“ Fast all das ist im Film anders. Paulin starb noch vor Beginn seines Prozesses an Aids, was ihn für Claire Denis erst recht zu einer mysteriösen Figur werden ließ, weil die Umstände nie aufgedeckt wurden.

Dieser Thriller braucht keine große Action. Gemordet wird fast lautlos, gevögelt im Dunkeln. Danach liegt man nackt auf dem Bauch und grübelt übers Leben, raucht. Melancholie? Erst mal den Schwanz waschen. Action ist, wenn Daiga ihren Wolga verkaufen will und den Käufer, nachdem sich dieser über ein Klopfen im Motor beschwert, rüde vom Steuer wegzerrt, selber losrast und mit Absicht ein Cabrio von hinten zu Schrott preßt. Immer wieder setzt sie zurück, gibt wieder Gas. Zwei Autos haben Verkehr. Der Fahrer des Cabrios nimmt die Schuld hinterher auf sich, die Bullen schütteln den Kopf. Daiga lächelt zufrieden, ihre einzige Sexszene in dem Film.

Nicht ganz, denn da gibt es noch diesen wundervollen Tanz mit der Hotelwirtin, bei der sie inzwischen die Zimmer putzt. „A Whiter Shade Of Pale“ quillt aus dem Kassettenrekorder, die Frauen tanzen, die ältere sagt der jüngeren: Du siehst wundervoll aus. Das genügt.

Vielleicht ist der ganze Film so wundervoll, weil er nichts übertreibt, aber schon das wäre wieder viel zu viel Aufregung, übertrieben eben. Irgendwann ahnt Daiga, wer der Mörder ist und verfolgt ihn durch die dunklen Straßen. Dann ist sie wieder allein in ihrem Zimmer, Freunde hat sie nicht. Manchmal wird es hell im Paris des 18. Arrondissements, dann erschrickt man. Dann sitzt plötzlich der Mörder vor dem Ermittlungsrichter, der liest nüchtern Namen und Adressen der Ermordeten vor. „Die Welt ist verrückt geworden“, sagt der Verdächtige und kommentiert die Namen mit einem nüchternen „Oui“.

„Ich kann nicht schlafen“, Frankreich 1994

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen