: Die furchtbare Reise zu den Richtern
In Bayreuth, nicht in Berlin fällte der Volksgerichtshof seine letzten Urteile ■ Von Philipp Oswalt und Bernd Siegler
Amerikanische Bomben beenden am 3. Februar 1945 einen Hochverratsprozeß vor dem Volksgerichtshof in Berlin. Vorsitzender Richter ist der Präsident des Gerichts, Roland Freisler. Auf dem Weg in den Luftschutzkeller wird Freisler im Hof von Bombensplittern tödlich getroffen. Das Gebäude ist so schwer beschädigt, daß in Berlin keine Prozesse mehr geführt werden können. Der Sitz des Volksgerichtshofs wird nach Potsdam verlegt. Für die Untersuchungshäftlinge ist ihr Martyrium aber noch nicht zu Ende. Sie sollen nach Bayreuth gebracht werden, dorthin, wo nach Adolf Hitler, „das geistige Schwert geschmiedet wurde, mit dem die Nationalsozialisten heute fechten“. In der Wagner-Stadt Bayreuth fällt der Volksgerichtshof seine letzten Unrechtsurteile, hier sterben noch einmal viele Häftlinge. Damit tut sich die Stadt bis heute schwer.
Zwei Tage nach der Zerstörung des Volksgerichtshofes verfügt Justizminister Otto Thierack, daß ein Teil der Häftlinge, nämlich „die gefährlichen Hochverräter, namentlich Ausländer, nach Bayreuth transportiert werden sollen, wo in Zukunft entsprechende Senate des Volksgerichtshofes urteilen sollen“. Der Generalstaatsanwalt in Bamberg erhält entsprechende Order: „Etwa 220 männliche Gefangene sind heute mit dem Schiff von Berlin abbefördert und sollen sodann mittels Sondertransport nach St. Georgen-Bayreuth weiterbefördert werden. Insgesamt sind etwa 300 Plätze für Untersuchungsgefangene des Volksgerichtshofes bereitzustellen.“
Am Morgen des 6. Februar beginnt für die Häftlinge die Höllenfahrt nach Bayreuth. Unter ihnen sind bekannte Widerstandskämpfer wie Eugen Gerstenmaier, der spätere Bundestagspräsident, der im „Kreisauer Kreis“ mit den „Verschwörern des 20. Juli 1944“ zusammenarbeitete, der frühere Pressechef von Reichskanzler Hindenburg, Gerhard Schultze-Pfaelzer, der Sozialist Ewald Naujocks und der Bauunternehmer Alfred Oswalt, der in Berlin einer deutsch-holländischen Widerstandsgruppe angehörte.
SS-Einheiten treiben die Gefangenen in den frühen Morgenstunden im Berliner Westhafen zusammen. Bis Mittag stehen sie dort herum. „Nachdem ein halber Tag vertrödelt ist, sollen wir plötzlich in zwei Minuten in den dunklen Kohlenbunkern der Lastkähne verstaut sein. Also werden wir Hals über Kopf auf Leitern in den Abgrund gestoßen. Als sich die Wellblechluke über der Dachmitte dröhnend schließt, wird es stockfinster“, erinnert sich Gerhard Schultze-Pfaelzer. Frauen und Männer werden getrennt und „zusammengepfercht wie Büchsensardinen“ (Gerstenmaier). Der Transport sollte zwölf Tage dauern.
Nachts legen die Boote am Ufer an. Ab und zu schütten die Wachen zerkrümmelte Brote, teilweise schon verdorben, auf die Köpfe der Gefangenen herab. Für die Notdurft gibt es leere Konservenbüchsen. „Mit der Zeit entwickelte sich“, so Schultze-Pfaelzer, „ein infernalischer Gestank. Es war kalt, und wir waren halb verhungert. Bald begannen die besonders Anfälligen zu sterben.“
Während der Fahrt debattieren die Häftlinge über den Widerstand gegen das Naziregime. „Wie war es möglich, daß sich nur eine kleine Schar dazu durchrang, der Herrschaft des Tyrannen eine Ende zu bereiten?“ fragt sich Gerstenmaier. Schultze-Pfaelzer macht sich Gedanken, was das Attentat vom 20. Juli wohl ausgelöst hätte, wäre es erfolgreich verlaufen: „Die deutsch-faschistische Bewegung wäre damit nicht in sich zusammengebrochen. Der Nazismus hätte aus der Lüge, nur Hitlers gewaltsamer Tod hätte Deutschlands Sieg verhindert, neue Kraft gesogen.“ – „Erschöpft schliefen wir schließlich ein, bis uns der Hunger, die Kälte und die Rufe der Wächter wieder auf die Beine brachten“ (Gerstenmaier).
Über Spree, Havel und Elbe erreicht der Transport nach sechs Tagen Coswig. Die Gefangenen werden quer durch die Stadt zum Bahnhof eskortiert. Schaulustige rufen den Wachmannschaften zu: „Was macht ihr euch soviel Mühe mit denen, knallt sie doch runter!“ Am Bahnhof müssen die Erschöpften lange warten. „Wir zittern im nässenden Schneewind, die Schwachen fallen in den Schlamm, endlich quietschen ein paar alte Güterwagen. Die Luftklappen sind zugenagelt. – Das würde man nicht einmal Tieren zu bieten wagen; aber wir waren ja auch kein wertvolles Rindvieh, sondern politische Gefangene, die niedrigste Sorte von Lebewesen“, erinnert sich Gerhard Schultze-Pfaelzer.
In der ersten Nacht kommt der Zug nicht weit von Dessau zum Stehen. In nächster Nähe toben die Fliegerangriffe. Die Schienen beben, durch die Ritzen der Waggonverkleidungen dringt der Feuerschein. Am Tage fährt der Zug durch Thüringen weiter nach Bayern. Einigen Häftlingen gelingt die Flucht. Als die Wachleute deren Fehlen feststellen, ordnen sie an, alle Gefangenen zu erschießen. Doch bürokratische Hindernisse stehen ihnen im Weg. Man weiß nicht, wie man die Leichen wegschaffen kann, der Bürgermeister wird eingeschaltet, man telegrafiert. Schließlich geht die Fahrt weiter. Die Gefangenen bekommen an den letzten beiden Reisetagen bis Bayreuth weder Wasser noch Brot. Auf Nebenstrecken geht es durch die Gebirge. „Die Strafe trifft uns lebensgefährlich. Tatsächlich bricht schon gegen Abend eine Art Hungerdelirium aus“ (Schultze-Pfaelzer).
Die Fahrt endet am 17. Februar auf dem Bayreuther Güterbahnhof. Die Gefangenen marschieren zum Zuchthaus. „Für unseren Elendszug war es ein mühsamer Weg. Die Zusammenbrechenden mußten mitgeschleppt werden“, erinnert sich Gerstenmaier. Schultze-Pfaelzer ist einer dieser entkräfteten Männer, die sich auf ihre Kameraden verlassen müssen. Dennoch hat er ein Auge für den Kontrast zwischen dem zerbombten Berlin und dem noch unzerstörten Bayreuth: „Blinkende Fensterscheiben, saubere Gehsteige, die Bürger sehen sogar noch ziemlich gut hitlerisch aus.“
Auf der Krankenstation des Gefängnisses muß Schultze-Pfaelzer mit ansehen, wie mehrere Häftlinge an den Folgen des Transports sterben: „Sie tragen einen leblosen Körper hinein. Es ist einer der Unglücklichen, die ins Delirium fielen und zuletzt im Bremserhäuschen des Waggons, an Händen und Füßen gefesselt, abgestellt wurden. Um Mitternacht ist der Mann tot.“
Das 1724 erbaute Zuchthaus St. Georgen-Bayreuth ist im Frühjahr 1945 völlig überbelegt. Eigentlich vorgesehen für 1.200 Häftlinge, drängen sich bei Kriegsende etwa 5.000 Menschen in den Zellen. Die politischen Häftlinge werden in einem etwas abseits gelegenen Bau festgehalten. Im Keller gibt es Einzelzellen für Dunkelhaft. Viele sterben in St. Georgen den Hunger- oder Kältetod. Andere magern zu Skeletten ab. Der knapp zwei Meter große Alfred Oswalt hat bei seiner Verhaftung im Oktober 1944 107 Kilo gewogen, bei der Befreiung, ein halbes Jahr später, nur noch die Hälfte.
Noch als die Sowjetarmee schon westlich der Oder kämpft, am 12. März 1945, ernennt Hitler Harry Haffner zu Freislers Nachfolger. Das NS-Regime steht vor dem Zusammenbruch, der Volksgerichtshof arbeitet unter Hochdruck. In Bayreuth werden die politischen Häftlinge weiterhin brutal verhört. Der Holländer Cornelius Hubers, der gemeinsam mit Alfred Oswalt in Berlin Widerstand leistete, überlebt so ein Verhör nicht. „Man hat Hubers so geprügelt, daß er ohnmächtig auf dem Boden lag und daß ihm das Blut aus Mund, Nase und Ohren herauslief. Der Totenschein gab jedoch ,allgemeine Entkräftung‘ an“, berichtet Oswalt. Cornelius Hubers ist 22 Jahre alt, als er am 19. Februar 1945 stirbt.
Einzelne Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofes kommen in die oberfränkische Stadt, von deren „schillernder Schönheit“ Hitler so schwärmte, um die Verurteilungsmaschinerie in Gang zu halten. Auch nach dem ersten Luftangriff auf Bayreuth, am 5. April, verhängen die Richter unbeeindruckt drakonische Haftstrafen und fällen Todesurteile. Obwohl es zu der geplanten Errichtung einer Hinrichtungsstätte nicht mehr kommt, so berichtet Schultze- Pfaelzer, werden Gefangene umgebracht. Ein Staatsanwalt ließ „ein paar Tage vor unserer Befreiung im Gefängnishof politische Gefangene erschießen. Sie hatten Hühnereier im Hof gefunden und ausgetrunken.“ Andere Häftlinge werden kurz vor Kriegsende von Bayreuth in die Konzentrationslager Flossenbürg und Dachau abtransportiert.
Am 14. April wird Bayreuth von den Amerikanern befreit. Bis zur letzten Minute zittern die Häftlinge in Todesangst. Unter ihnen hat sich herumgesprochen, daß in anderen Zuchthäusern SS-Kommandos kurzerhand die Insassen erschossen haben. Auch in St. Georgen erscheint einen Tag vor der Befreiung ein SS-Führer. Schultze-Pfaelzer belauscht dessen Gespräch mit einem Gefängnisbeamten: „Bestellen Sie dem Herrn Direktor, die politischen Gefangenen müssen morgen unbedingt erschossen werden“, sagt der SS- Mann. „Die Anordnung des Sicherheitshauptamtes für den Fall der Gefahr besteht seit langem, der Reichsjustizminister hat ausdrücklich zugestimmt. Die Leichen schaffen wir fürs erste in den abgelassenen Teich und schütten ein Faß Chlor darüber. Wenn Sie nicht genügend Feuerkraft haben, so holen wir uns noch einen Zug von der Waffen-SS.“
Doch die Amerikaner kommen der SS zuvor. Nach kurzen Gefechten kapitulieren die Deutschen. Bis die Häftlinge förmlich entlassen werden und nach Hause zurückkehren können, dauert es aber noch Wochen, in denen noch viele von ihnen an den Folgen der Unterernährung sterben.
Wie viele, darüber ist bis heute nichts Genaues zu erfahren. Mit dem Hinweis auf Datenschutz verweigern die Bayreuther Behörden den Blick ins Sterbebuch der Stadt. „Es ist immer die Frage, ob hier ein sorgfältiger Beamter am Werk ist oder ob der Datenschutz ein willkommener Anlaß ist, die Leichen im Keller zu verbergen“, meint Bernd Mayer. Der 55jährige ist zweiter Bürgermeister von Bayreuth und will die Vergangenheit der Stadt ans Tageslicht bringen: „Lange Zeit galt ich daher als Nestbeschmutzer.“
Bayreuth spielte nicht nur als Hauptstadt des Gaues Ostmark eine exponierte Rolle im „Dritten Reich“. Seit 1876 fanden jedes Jahr auf dem „Hügel“ die Wagner-Festspiele statt, und für Hitler war der Komponist der „größte Deutsche, der je gelebt hat“. Bei den „Festspielen des Sieges“ im Juli 1940 wurde Hitler vom Publikum stürmisch bejubelt und vor dem Besuch der Oper „Götterdämmerung“ von der Festspielchefin Winifred Wagner, einer Schwiegertochter von Richard Wagner, herzlich begrüßt.
Von jener Ehrenbürgerin Bayreuths, die sich – unter anderem in einem Syberberg-Film – bis zu ihrem Tod 1980 zu Hitler bekannt hat: „Wir alten Nationalsozialisten haben nach dem Krieg einen neuen Decknamen erfunden, da man ja in aller Öffentlichkeit nicht über ihn reden konnte. Wir haben ihn ,USA‘ genannt, das heißt ,unser seliger Adolf‘.“
„Lange hat man sich hier vor der eigenen Geschichte gedrückt“, sagt heute der parteilose Bürgermeister Mayer. Seiner Meinung nach hat Bayreuth inzwischen die „Lektion der Geschichte gelernt“. Trotzdem gebe es „noch genügend braune Flecken, die ausgeleuchtet werden müssen“ – und einer davon sei die Episode des Volksgerichtshofs in Bayreuth. „Eine Gedenktafel am Gefängnis ist längst überfällig“, moniert Mayer. Doch Norbert Aas von der Geschichtswerkstatt Bayreuth stößt mit seiner Anregung, eine solche Tafel am St.- Georgen-Gefängnis anzubringen, bislang bei der Justiz auf taube Ohren. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß „dort die junge Generation die Alten deckt“.
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