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Und was ist überhaupt mit den Socken?

■ H. P. Daniels war letzte Woche wieder in Sachen Literaten unterwegs. Hier seine Eindrücke von der „Ersten Großen Freiluftgesamtkunstlesung“ im Prater sowie der inoffiziellen Werkstattlesung anläßlich der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises

Freitag abend: Prenzlauer Berg ... zur „Ersten Großen Freiluftgesamtkunstlesung im Prater-Garten mit Peter Wawerzinek“. Der Prater, der schon zur Jahrhundertwende als Volksvergnügungsstätte (Tanz, Theater, Suff) existierte, aber in den letzten Jahren brachgelegen und sachte vor sich hingegammelt hatte ... gammelt eigentlich immer noch vor sich hin, nur brach liegt er nicht mehr, denn am Freitag war „Wiedereröffnung“ als Volksbühnenableger. Im Garten, auf einer Bühne, deren Architektur mich an die Vorderfront der Tiergartener Kongreßhalle erinnert ... im Miniaturformat, auch mit so einer mützenschirmartigen, runden, nach vorne gezogenen Dachkonstruktion. Davor ein verlorenes Tischchen mit Stuhl und Mikrophon ... gleißend angestrahlt, herunter von zwei bizarren, riesig aufragenden, in den Himmel zeigenden Betonfingern, die an Sprungtürme im Schwimmbad erinnern.

Auf die Bühne tritt ein älterer Herr mit Schlips und Anzug ... so eine Mischung aus Heinz Rühmann, einem Redner auf einem Betriebsfest und meinem alten Schuldirektor ... und so war dann auch die vom Blatt gelesene Festrede: feierlich, fröhlich, launig ... ich freue mich, daß Sie gekommen sind, und so weiter ... und haben für Sie keine Mühen gescheut und haben Meter um Meter Kabel verlegt für Sie ... und unser Dichter Peter Wawerzinek wird lesen aus seinem Werk „Moppel Schappiks Tätowierungen“ ... und für die musikalische Umrahmung wird der beliebte Gospelchor Prenzlauer Berg sorgen, und es soll auch noch eine besondere Überraschung geben.

Und dann steht da der Gospelchor in seinen herrlich dämlichen, über die Hose hängenden Gospelchor-Tiehschörts ... wie eine Mischung aus Pfadfindern, Singeklub und christlicher Jugendgruppe. Und jede/r bekommt erst mal von Heinz Rühmann Peter Wawerzineks Buch überreicht ... und schon beginnt der Chor zu singen ...

Down by the Riverside, schrapp-schrapp (macht die CASIO-Kinderorgel), Down by the Riverside, schrapp-schrapp, und ich bekomme erste Zweifel, wie das eigentlich gemeint sein soll: Soll das tatsächlich witzig sein, wie es von einem Teil des Publikums offensichtlich aufgefaßt wird, das vergnügt vor sich hingluckst ... dieser, vorsichtig ausgedrückt, „schräge“ Gesang? Die untermalenden Aerobic-Übungen? Und der manische, wieder vorsichtig ausgedrückt: „leicht irre“ Gesichtsausdruck der sieben Sangeskünstler? Sind das alles Schauspieler der Volksbühne? Oder sind die echt? Ich bin verwirrt. Dann nimmt „unser Dichter Peter Wawerzinek“, nach ausladend einladender Geste und Handschlag Heinz Rühmanns, Platz am einsamen Pult und liest: „Moppel Schappiks Tätowierungen“. Und gerade als ich mich auf die Berlin- Touren des Helden eingelassen habe ... so richtig drin bin in der Geschichte, im Hören ... immer wieder Ablenkungen: Irgendwo knattert ein Specht im Gebälk ... ein Teil einer Klanginstallation? Die Hochbahn rumpelt, Gebrülle aus dem Wohnhaus nebenan, ein Kind knirscht mit einer Coca-Cola-Dose ... gehört das dazu?

Und da kommt Heinz Rühmann vor die erste Zuschauerreihe geschlurft und sagt zu irgend jemand weiter hinten, daß wir doch Glück hätten, daß das Wetter so mitspielt ... Und gegen all das liest Wawerzinek an ... und seine Stimme ist an allen möglichen Stellen des Gartens per Lautsprecher zu hören. In einer Ecke ist ein Lagerfeuer mit Stühlen drumherum ... und Wawerzinek im Lautsprecher ... und überall latschen Leute lang ... und wieder frage ich mich: Sind das alles Schauspieler? Auf dem Programm hatten so viele Namen gestanden ... bin ich womöglich der einzige wirkliche Zuschauer? Nein, da ist jemand von der Presse, macht Notizen, und da hält jemand ein Mikrophon in die Luft, ein bißchen verwehenden Wawerzinek auffangen.

Am ungestörtesten läßt sich der Lesung auf der Toilette folgen, über Kopfhörer, aber wer sitzt schon gern die ganze Zeit auf dem Klo? Und am besten sehen kann man den Dichter noch immer von vor der Bühne ... dann aber wieder nicht so richtig verstehen ... denn von ferne kommt das Gloryhalleluja des „beliebten Gospelchores Prenzlauer Berg“ herangeflattert ... und gleich die Sänger hinterher ... mit wehenden Tiehschörts, wie die Weihnachtsengel beim Krippenspiel ... Gloryhalleluja ... und Wawerzinek runter von der Bühne, und der „beliebte Gospelchor Prenzlauer Berg“ rauf auf die Bühne: Swing low, sweet chariot...

So geht das in drei Abteilungen etwa anderthalb Stunden: Wawerzinek wieder runter, Gospelchor rauf. Und als sie singen: „Joshua fit the battle of Jericho“, es aber klingt wie „Joseph hit the bottle of Jericho“, beginne ich zu bedauern, daß es hier kein Bier gibt. Dafür gibt's am Schluß noch das große Tischfeuerwerk.

* * *

Samstag Jackett-Literatur: Werkstatt-Lesungen anläßlich der Verleihung des Alfred-Döblin- Preises im Literarischen Colloquium. Katja Lange-Müller hatte ihren vergnüglichen Gewinnertext schon am Donnerstag zuvor in der Akademie der Künste gelesen. Heute sind sie alle wieder da, der ganze offizielle Literaturbetriebsausflug: Lektoren und Verlagsvertreter von S. Fischer, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch, Wagenbach, Volk und Welt, und Herr Schöffling mit dem Wallewallebart ... und Presseleute ... und jede Menge Autoren ... und ich hab mich einfach eingeschlichen, denn es war nicht öffentlich.

Die Autorin Judith Kuckart schüttelte den Kopf: Nein, nein, das könne sie nicht verstehen, wie man freiwillig zu so einer Veranstaltung gehen könne ... ob ich mich da nicht schrecklich langweilen würde? Frau Kuckart war auch gleich die erste Vorleserin, und es hat mich keineswegs gelangweilt: weder ihr vorgelesener Romanauszug noch ihre leicht kokette „görliehafte“ Ausstrahlung. Es wurde viel gelesen, viel diskutiert ... und wie das so war, konnte man inzwischen in sämtlichen Zeitungen nachlesen.

Während der neben mir sitzende taz-Literaturkritiker konzentriert den Lesenden lauschte und sich Notizen machte, ich also keine Sorgen zu haben brauchte, daß der Nachwelt Inhaltliches entginge, konnte ich mich auf den Wawerzinek-Sport verlegen: Socken betrachten. Was haben die hier eigentlich an der Socke? Erst mal große Enttäuschung, taz-Mann Plath: einfarbig, ohne Muster ... der schräg hinter mir ebenso ... vor mir komisches Dunkelrot mit feinfadig schwarzen Linien: Umriß von Amerika? ... Es liest Frau Hoppe, es liest Herr Spinnen (gibt es eigentlich Spinnen als Sockenmotiv?) ... die lesen nicht schlecht, und trotzdem immer wieder der Blick zu den Socken ... und da hab ich's, da sind sie: die Socken dieses Samstags: in der Reihe rechts vor mir. Sie gehören zu einem Dichter mit kahlem Kopf, einem Dichter in weißem Leinenanzug, die Jacke im Trachtenstil, weißblau gestreiftes Hemd, roter Schlips ... und die Socken mit kleinen Motiven ... der hat was Interessantes an der Socke. Autos? ... Nein ... Ich will mich nicht zu weit rüberbeugen. Und da zieht der Dichter aus seiner schwarzen Lederumhängetasche neben dem Stuhl ein riesiges schwarzledernes Notizbuch hervor und eine fast ebenso riesige Schachtel mit Buntstiften ... „Kiddies“ steht auf der Schachtel oder so ähnlich ... ich will mich nicht so weit rüberbeugen ... und was er da so eifrig notiert in das große Buch? Und was hat er an der Socke? ... Raketen? Nein.

Und der Dichter legt einen Buntstift im Winkel von neunzig Grad auf die Buntstiftschachtel auf dem Boden ... ganz akkurat, und sagt in der Diskussion, daß er großen Wert darauf lege, daß die benutzten literarischen Bilder auch genau stimmten, aber was ist auf den Socken? ... Fallschirme? ... Nein. Und dann kann ich nicht mehr kucken, denn jetzt ist dieser Dichter selbst dran mit Vorlesen ... und er zieht die Jacke aus ... und den roten Schlips hängt er über den Stuhl, macht die oberen Hemdknöpfe auf, geht nach vorne und liest. Das sei doch Kitsch, sagt eine Kritikerin anschließend, und ich finde das auch, und der taz-Kritiker nickt auch ... und andere finden das nicht. Eher so eine moderne Art Homer, findet einer, und eine ganz junge, schöne blonde Kritikerin sagt, sie habe ein bißchen Angst um den Dichter: daß er sich im Titanischen verlieren könnte ... aha ... aber was ist mit den Socken? Fragen will ich nicht ... also weiter kucken ... aber nicht so weit rüberbeugen ... ist ja noch ein bißchen Zeit. Und der Dichter schreitet zurück zu seinem Platz, macht die Hemdknöpfe zu, bindet den Schlips wieder um, zieht das Jackett an. Und ob die Haare rasiert sind ... oder ausgefallen? Und als irgendwann der letzte Autor liest, hab' ich's endlich, was auf den Socken ist: Stifte und aufgeschlagene Bücher.

„Erste Große Freiluftgesamtkunstlesung“, jeweils Fr.–So., 21 Uhr, Pratergarten, Kastanienallee, Prenzlauer Berg

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