piwik no script img

Nahezu sakrale Bedeutung

In nur vier Jahren Bauzeit entstand Stalins Metro für Moskau, die heute ihren 60. Geburtstag feiert  ■ Von Boris Schumatski

Jetzt werden wir dem Mütterchen Rußland seinen Rock schürzen!“ Politbüromitglied Lasar Kaganowitsch soll das gesagt haben, als er eigenhändig auf den Sprengknopf drückte und damit die größte Kirche Moskaus in die Luft jagte. Eine sowjetische Wochenschau aus dem Jahr 1931 dokumentierte diese zukunftsweisende Aktion: Das riesige Gebäude bricht zusammen, marmorne Säulen fallen, die vergoldeten Kuppeln verschwinden in schwarzem Rauch.

Die Bolschewiken waren keine Verschwender. Den rosa Marmor und den Edelgranit aus der gesprengten Kirche wollten sie für den Palast der Sowjets verwenden, der am selben Platz errichtet werden sollte. Aber dieses Projekt war für Sowjetrußland zu kostspielig, und die teuren Materialien fanden ihren Platz unter der Erde, in den Hallen der Moskauer Untergrundbahn.

Der Bau der Metro wurde im Juni 1931 von der Plenarsitzung des ZK der KPdSU beschlossen. Damals ging es lediglich um die „Errichtung eines modernen öffentlichen Verkehrsmittels“. Transportminister Kaganowitsch war für dieses nüchterne, städtebauliche Projekt zuständig. Aber schon bald nahm Josef Stalin höchstpersönlich die Metro in seine Obhut und verwandelte sie in eine „Großbaustelle des Kommunismus“. 80.000 Arbeiter und Komsomolzinnen aus allen Ecken der UdSSR wurden in die sozialistische Hauptstadt gebracht, Edelholz aus Karelien, Granit aus dem Ural, Eisen aus Nowokuznezk über Tausende von Kilometern nach Moskau transportiert.

Tag und Nacht schufteten junge Bauleute in den Metroschächten. Sie machten Überstunden und arbeiteten oft mit der nächsten Schicht weiter. Die Bauarbeiten gingen so schnell voran, daß das halbe Tausend Lieferanten aus der ganzen Sowjetunion nicht Schritt halten konnte. Dann handelten die Helden der Arbeit auf eigene Faust. Die älteren Moskauer erinnern sich noch, wie Komsomolzen- Brigaden nachts Zäune und Schuppen plünderten, um Querholz für neue Stollen zu besorgen.

Die „Metrostrojewzy“ waren nicht nur Bauarbeiter. Sie waren Kämpfer, Soldaten an der Arbeitsfront. Sie kämpften gegen nachgebende Erdmassen und unterirdische Flüsse. Sie kämpften gegen die kapitalistische Vergangenheit für eine kommunistische Zukunft. Und sie haben gesiegt.

In weniger als vier Jahren wurde der erste Metro-Abschnitt vollendet. Was hier entstanden war, war kein öffentliches Verkehrsnetz, sondern – wie Kaganowitsch in seiner Einweihungsrede am 15. Mai 1935 sagte – es waren unterirdische „Paläste“. Die ersten zehn Stationen waren Wirklichkeit gewordene Vision der leuchtenden Zukunft. An diesem Tag erlebte Bertolt Brecht, wie die sowjetische Arbeiterklasse „die große Metro in Besitz nahm“. – „Es waren da Tausende, die herumgingen / Die riesigen Hallen besichtigend, und in den Zügen / Fuhren große Massen vorbei, Die Gesichter strahlend wie im Theater... Immerfort / Wiesen Männer und Frauen auf Stellen, wo sie gearbeitet hatten...“ Brecht bemerkte auch, daß die Arbeiter oft nicht mehr wußten, ob es die richtigen Stellen waren. Nach der Einweihung erhielten die schönen architektonischen Details und die modernste Technik eine neue, nahezu sakrale Bedeutung. „Das hier sind nicht nur Marmorplatten, nein! Das ist nicht nur Eisen, nicht nur Granit, nein!“ erklärte Kaganowitsch. „In jedem Stück Granit, in jeder Marmorplatte und Rolltreppenstufe ist unsere Seele drin, unser Kampf, unser Blut und unser Sieg“. Die Moskauer Untergrundbahn verkörperte, was über der Erde nur eine Versprechung der Stalinschen Propaganda blieb.

Zu Beginn der Bauarbeiten herrschte im Süden der UdSSR eine Hungerkatastrophe; an ihrem Ende brach die Große Säuberung aus.

Die Jahrhundertbauten der Stalinschen Industrialisierung sollten die Sowjetleute von dieser tristen Realität ablenken und eine Zukunftsvision verkörpern.

Das hatte der ehemalige Seminarist Josef Wissarionowitsch Stalin von der russisch-orthodoxen Kirche gelernt. Statt des himmlischen Paradieses versprach er ein Paradies auf Erden. Nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel und der Untergrund sollten erobert werden. Der Bau der Metro war eine Eroberung der Hölle.

Die besten Architekten wurden mobilisiert, um – wie Brecht sagte – die Moskauer U-Bahn „nach den vollkommensten Mustern“ zu errichten. Akademisch geschulte Baumeister suchten in den alten Architekturalben die schönsten Details aus: antike Kapitelle, gotische Kreuzgänge, Renaissance- Gewölbebögen.

Auch ägyptische Kolonnaden paßten sehr gut zum Konzept des Bauherrn Stalin. Er verabschiedete sich vom weltberühmten sowjetischen Konstruktivismus. Die neue Epoche erforderte einen neuen Stil, den sozialistischen Realismus.

Nur eine Metro-Station bildete eine Ausnahme, die „Majakowskaja“. Die strenge Innendekoration und die Pfeiler aus rostfreiem Stahl wurden nur toleriert, weil die Station die Überlegenheit sowjetischer Technik repräsentieren sollte: nicht nur die Eroberung der Unterwelt, sondern auch die Erstürmung des Luftraums. Während der Weltausstellung 1939 in New York erhielt ihr Architekt Alexej Duschkin für seinen Entwurf eine Auszeichnung.

Zu Stalins Lebzeiten war die „Majakowskaja“ nicht besonders beliebt. Historische Bedeutung erhielt die Station allerdings durch eine persönliche Entscheidung von

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung

Stalin. Im November 1941 beschloß der sowjetische Führer, die Feierlichkeiten zur Oktoberrevolution unter die Erde zu verlegen. Währenddessen kreisten deutsche Bomber über Moskau, sogar der Kreml wurde einmal getroffen. Aber in einer der tiefliegendsten Stationen brauchte Stalin keine Angst vor seinem ehemaligen Verbündeten zu haben. Junge Offiziere, Stachanow-Helden, Ehrengäste klatschten während seiner Rede ununterbrochen Beifall. Nur wenn sie aufblickten, konnten sie sehen, was in der Oberwelt geschah: die Deckenmosaiken von Dejneka stellen die Aerostaten mit den Luftabwehrnetzen, die Jagdflugzeuge im Sturzflug und die Bomber über dem Kreml dar.

Auch die einfachen Moskauer fanden in diesem Kriegswinter Zuflucht in der Metro. Während über der Erde die Hölle los war, schliefen Hunderttausende auf den Bahnsteigen, in den Zügen und sogar in den Tunneln, wo provisorische Pritschen aufgestellt worden waren. Vor der Revolution versteckten sich die Russen während der Kriege in ihren Kirchen. Die Metro-Tempel boten einen besseren Schutz vor den modernen Waffen. Eine 500 Kilogramm schwere Bombe explodierte direkt über der „Kropotkin“-Station, wo früher die Erlöser-Kathedrale gestanden hatte. Tagsüber fuhr die Metro wieder. Sie wurde sogar erweitert, und 1943 brachte man die Mosaiken für die Station „Nowokusnezkaja“ aus Leningrad. Es gab damals nur einen einzigen Weg aus der belagerten Stadt, die sogenannte „Straße des Lebens“ durch den eingefrorenen Ladoga-See. Die schweren Fliesenbilder haben den Weg gut überstanden, ihr Schöpfer Frolow wurde aber in Leningrad zurückgelassen und verhungerte dort.

Nach dem Krieg erlebte die Metrokunst ihre Blütezeit. Alexej Schtschussjew, Architekt der wichtigsten sowjetischen Kultstätte, des Lenin-Mausoleums, gestaltete die Station „Komsomolskaja“ nach dem Muster der russisch-orthodoxen Kirchen. Für die Decke entwarf der Maler Pawel Korin eine sozialistische Ikone: den „Großen Heerführer Generalissimus Stalin“. 1952 wurde die Station eingeweiht. Im Jahr darauf starb der Vater des sowjetischen Volkes.

Es war der Anfang vom Ende. Die „Kaganowitsch-Metropolitain“ wurde nach Lenin umbenannt. Während der Entstalinisierungskampagne Chruschtschows wurde Korins Stalinmosaik abgerissen und die Metro Schritt für Schritt zu einem banalen Verkehrsmittel degradiert. „Die neuen Stationen sehen wie öffentliche Toiletten aus“, sagen die enttäuschten Moskauer heute. Metro zu fahren ist für sie kein Erlebnis mehr.

Aber die Moskauer Metro funktioniert auch heute noch perfekt. Sie hat die dichteste Zugfolge der Welt, aber ihre 150 Stationen sind mit fast 9 Millionen Fahrgästen total überfordert. Und sie bietet keine Zuflucht mehr vor der irdischen Realität. Seit dem Tschetschenien-Krieg wuchs die Angst vor Attentaten. In den Zügen ertönt die Aufforderung: „Geehrte Passagiere, Sie werden gebeten, ihre Sachen nicht zurückzulassen.“ Schon eine vergessene Einkaufstasche kann eine Panik auslösen.

Die alten Stationen werden umbenannt. Die „Lenin“- heißt jetzt „Zarin“-Station. Die „Kalinin“- Station trägt den Namen des Imperators Alexander, der die Erlöser- Kathedrale erbaut hatte. Die neuen Machthaber Rußlands wollen mit dem Stalinschen Gesamtkunstwerk nichts mehr zu tun haben. Nur eines haben sie von ihren kommunistischen Vorgängern übernommen: Auch das „demokratische“ Rußland braucht eine Staatsreligion. Obwohl die Moskauer Metro dringend Geld für die Erweiterung braucht, favorisiert der Kreml ein anderes Bauprojekt: die abgerissene Erlöser-Kathedrale wird wiederaufgebaut. Und man freut sich, daß die wertvollen Marmorplatten in den Metro-Palästen siebzig Jahre Sozialismus überlebt haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen