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Mitterrand, das war vor allem der Wunsch nach Veränderung

Mittwoch ist Schlüsselübergabe im Pariser Präsidentenpalast  ■ Von Dorothea Hahn

In der Mainacht des Jahres 1981, als das Pariser Volk bis zum Morgengrauen an der Bastille tanzte, schlummerte Aglaia in einer altfranzösischen Holzwiege. Stunden zuvor hatte die Mutter ihr drei Monate altes Baby mit in die Kabine genommen, wo sie den Sozialisten wählte, der angetreten war, das Leben in Frankreich zu verändern. Der die Freiheit in den Palast der Republik bringen, das Geld entmachten und die Gleichheit aller Franzosen herstellen wollte. „François Mitterrand“, sagt Aglaias Mutter heute, „das war ein Gefühl. Das war vor allem der Wunsch nach Veränderung.“

Zweimal zuvor schon hatte Mitterrand versucht, den Konservativen, die Frankreich seit Jahrzehnten wie ihren Erbhof regierten, die Macht zu nehmen. 1965 hatte der junge Mann den siegesgewissen Charles de Gaulle herausgefordert, den legendären Chef der Résistance und Gründer der V. Republik, gegen die Mitterrand heftig opponiert hatte. Wenige Jahre nach dem Pariser Mai, an dem auch Aglaias Mutter teilgenommen hatte, war er 1974 – mittlerweile zum Chef der reformierten Sozialistischen Partei avanciert – gegen Valéry Giscard d'Estaing angetreten und hatte mit 49,2 Prozent in der Stichwahl nur ganz knapp den Einzug in den Elysée-Palast verfehlt.

Als Mitterrand am 10. Mai 1981 seine lang angestrebte Mehrheit bekam, regierte in Moskau Leonid Breschnew, in Washington Ronald Reagan und in Bonn Helmut Schmidt. Der französische Sozialist gehört der Generation jener alten Männer an, aber für sein Land war er ein historischer Neubeginn. Seinen Sieg zelebrierte er mit tiefen Verbeugungen vor Pazifismus, Résistance und Menschenrechten. Bei einem Besuch im Panthéon legte er Rosen auf die Gräber des ermordeten Sozialisten Jean Jaurès, des ermordeten Kommunisten Jean Moulin und des Vorkämpfers für die Abschaffung der Sklaverei Victor Schoelcher. Bei einem Festmahl saß er neben Hortensia Allende, der Witwe des ermordeten chilenischen Präsidenten. Und bei der Zusammenstellung seiner ersten Equipe holte er Intellektuelle wie den Revolutionstheoretiker Régis Debray als persönliche Berater und vier Kommunisten als Minister in die Regierung.

Große Gesten bestimmten auch Mitterrands erste politische Schritte als Präsident. Im Sommer nach seinem Amtsantritt schaffte er, der in der Nachkriegszeit elf Mal Minister gewesen war und persönlich Todesurteile unterzeichnet hatte, die Guillotine ab. Er legalisierte die freien Radios, verkürzte die Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden und verlängerte den Jahresurlaub auf fünf Wochen. Er begann die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Banken und rief bei der Nord-Süd-Konferenz von Cancun nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung.

Doch der Elan des Erneuerers ließ schon wenige Monate später nach. Die Kohle- und Stahlindustrie entließ Tausende Franzosen in die Dauerarbeitslosigkeit, der Franc wurde abgewertet und die Löhne eingefroren. Im September 1982 mußte Mitterrand eingestehen, daß sich seine Wirtschaftspolitik radikal geändert hatte. Die Kommunisten schieden aus der Regierung aus – für die kurze Zusammenarbeit büßt diese Partei bis heute mit Wahlergebnissen unter zehn Prozent.

Wie jeder neue Staatschef in Frankreich markierte Mitterrand den Beginn einer neuen Generation. Der Literaturliebhaber und Schöngeist, der selbst 15 Bücher verfaßt hat, holte junge Leute in die Regierung und pflegte den Dialog. Ein neuer Politikstil kehrte ein. Doch im Unterschied zu früher sollte die „Generation Mitterrand“ 14 Jahre dauern. Ihr Namensgeber blieb zwei Amtszeiten an der Macht, länger als irgendein anderer französischer Staatschef seit dem Ende des Kaiserreichs.

Aglaia, die heute ein Gymnasium in Paris besucht, hat als französische Politik bisher nichts anderes kennengelernt als den Mitterrandismus. Die Bilder des Republikchefs, die in keinem öffentlichen Gebäude fehlen, begleiteten ihr Leben von Anfang an. Er war für sie die Inkarnation der Macht. 1988, als Aglaia sieben Jahre war, kandidierte Mitterrand zum zweiten Mal. Das Mädchen machte Freudensprünge vor dem Fernseher. „Vermutlich hättest du geweint, wenn Chirac Präsident geworden wäre“, hat ihre Mutter gesagt, die damals wieder Mitterrand wählte. Das war 1988.

Mitterrands Umfeld hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits radikal verändert. Nach den Kommunisten hatte ihm auch der eine oder andere Sozialist den Rücken gekehrt. In François Mitterrands Partei, die ihre Sporen in der Opposition verdient hatte, war der Umgang mit der Macht und dem großen Geld inzwischen zum Alltag geworden. Innerparteiliche Widersacher des Präsidenten wurden systematisch kaltgestellt. Der Begriff „Mitterrandismus“ war für viele zum Synonym für ein Festhalten an der Macht geworden.

Erste Korruptionsaffären im sozialistischen Milieu bahnten sich an. Die Utopien waren aus dem sozialistischen Diskurs verschwunden, und die Hoffnungen der radikalen Linken waren enttäuscht worden. Seit dem Attentat des französischen Geheimdiensts auf das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“ im Jahr 1985, das gegen die Atomtests im Pazifik protestierte, verlor Mitterrand seine Glaubwürdigkeit auch bei der Umwelt- und Menschenrechtsbewegung.

Was der Sozialist links verlor, machte er rechts wett. Vor allem außenpolitisch gewann Mitterrand, dessen erste Wahl international noch viel Unsicherheit ausgelöst hatte, schnell Terrain als ein berechenbarer Partner. Sein gewichtigster Freund wurde der deutsche Kanzler Helmut Kohl. Für den Christdemokraten und gegen die deutsche Friedensbewegung warb Mitterrand 1983 im Bundestag für die Stationierung von Pershing-Raketen. Hand in Hand mit dem Christdemokratem erinnerte er 1984 über einem fahnengeschmückten Sarg in Verdun an die Opfer der beiden Weltkriege. Gemeinsam waren die beiden „Motor und zentrale Achse der europäischen Integration“. Doch Mitterrands europapolitische Erfolge können die außenpolitischen Fehleinschätzungen seiner zweiten Amtszeit nicht verdecken. 1989, als er mit großem Pomp den 200. Jahrestag der Französischen Revolution in Paris feierte, übersah der französische Staatschef die historische Tragweite des Mauerfalls in Berlin. Noch im Dezember 1989 absolvierte er Staatsbesuche in Moskau und Ost-Berlin, mit dem Ziel, ein deutsches Zusammengehen zu verhindern. Bis heute untersagt er seinen Mitarbeitern den Gebrauch des Begriffs „Wiedervereinigung“. Im Sommer 1991, während des Putsches gegen seinen russischen Freund Michail Gorbatschow, wagte der französische Sozialist keine eindeutige Verurteilung des sowjetischen Militärs. Und bei dem Zerfall Jugoslawiens setzte Mitterrand getreu der französischen Tradition auch dann noch auf die Großmacht Serbien, als die neuen Einzelstaaten sich längst gegründet hatten.

Auf der innenpolitischen und wirtschaftlichen Bühne erlebte Mitterrand längst die Demontage seiner frühen Politik. Neben seiner eigenen Kehrtwende in den frühen 80er Jahren trugen dazu die beiden Kohabitationen mit konservativen Regierungen von 1986 bis 1988 und von 1993 bis 1995 bei. In den letzten Jahren seiner Amtszeit erlebte Mitterrand die Reprivatisierung der von ihm verstaatlichten Industrien und Banken und sogar das Wiederaufkommen der Diskussion über die Todesstrafe.

Unübersehbare Spuren – die auch kein Konservativer zu beseitigen wünscht – hinterläßt der Sozialist hingegen im Stadtbild von Paris. Seine zwölf „großen Projekte“, vom „neuen Louvre“ über die „große Arche“ bis hin zu der erst im Rohbau fertigen „großen neuen Bibliothek“, sind samt und sonders Attraktionen für die Hauptstadt geworden. Die französische Provinz hingegen ging, abgesehen von den Schnellzügen TGV und ein paar neuen Atomkraftwerken, bei der Verschönerung leer aus. Die im Dezentralisierungsprogramm der 80er Jahre versprochene Verlagerung von staatlichen Verwaltungen samt Arbeitsplätzen läßt bis heute weitgehend auf sich warten.

Mit zunehmender Amtszeit verschwamm in der Öffentlichkeit das Bild des Menschen Mitterrand. In den 80ern jubelten ihm die Franzosen als „Tonton“ – Onkel – zu, später wurde er ihr „Dieu“ – Gott – dann die „Sphinx“. Seit einigen Jahren zeigt sich Mitterrand-Tonton-Dieu-Sphinx kaum noch in der Öffentlichkeit. „Er ist seltsam alt geworden“, sagt Aglaia über ihn. „Seine Epoche“ ist für die 14jährige eine ferne „andere Zeit“. Daß er sich vorstellen kann, wie junge Leute heute denken und fühlen, bezweifelt sie.

Ein Krebsleiden, das bereits vor Jahren erkannt wurde, verklärte Mitterrands Bild zusätzlich. Im vergangenen Herbst, nach einer zweiten Operation, stellten sich die Franzosen bereits auf ein abruptes Ende seiner Amtszeit ein. Doch der Totgesagte überlebte alle Gerüchte. Im September erklärte er im Fernsehen, er habe den Willen, die Krankheit zu besiegen. Dann begann er seinen langen, öffentlichen Abschied. In der Neujahrsansprache versicherte er seinen Landsleuten, daß er „bei ihnen“ bleiben werden, „was immer auch geschehe“. Er besuchte einen Philosophen zu Gesprächen über das Jenseits. Er schrieb zusammen mit dem Nobelpreisträger Elie Wiesel ein Buch über sein Leben. Und er ließ sich mit seiner unehelichen Tochter fotografieren, die er der Öffentlichkeit seit ihrer Geburt vor 20 Jahren vorenthalten hatte.

In den letzten Amtsmonaten kam auch der Beginn von Mitterrands politischer Karriere vor 50 Jahren im Umfeld des Marschalls Philippe Pétain in die Diskussion. Der aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohene junge Mitterrand hatte in den 40er Jahren in dem Kollaborateursregime gearbeitet. Seine Vergangenheit in Vichy und die spätere Freundschaft mit dem für Juden-Deportationen aus Frankreich verantwortlichen Vichy-Polizeichef René Bousquet war Gegenstand eines Buchs, das im vergangenen Herbst die Nation beschäftigte. Mitterrand stellte sich dem Gespräch über seine verdrängte Geschichte in einem Fernsehinterview. Er bedauere nichts, sagte er und verwies mit Stolz darauf, daß er im Gegensatz zu vielen anderen „von rechts gekommen“ und nach links gegangen sei.

Mitterrand ist einer der letzten Zeitgenossen, die im Ersten Weltkrieg geboren sind, und den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene erlebt haben. Am 8. Mai bei der Gedenkfeier in Berlin erinnerte der scheidende Präsident daran. Wie am Anfang seiner gestenreichen Amtszeit verbeugte er sich wieder vor der Geschichte. Nur galt dieses Mal seine Reverenz nicht den Helden der französischen Geschichte, sondern den Feinden von einst.

„Ihre Uniform“, sagte er in Berlin über die deutschen Soldaten, „ist nicht wichtig. Auch nicht die Ideen, die den Geist dieser Soldaten bestimmten. Sie waren bereit, ihr Leben zu verlieren. Für eine schlechte Sachen – aber ihre Geste hatte damit nichts zu tun. Sie liebten ihr Vaterland. Sie waren mutig.“

Dieser letzte Versuch Mitterrands zur deutsch-französischen Aussöhnung stieß bei vielen alten Freunden auf Mißbilligung. Bei seinem Abschied ist der Präsident einsamer als 14 Jahre zuvor. Viele seiner einstigen Gefährten gehen seit Jahren eigene Wege – manche von ihnen finden sich heute an der Seite der Konservativen. Seine sozialistische Partei, von der er sich als „Präsident aller Franzosen“ weit entfernt hat, kämpft um ihr Überleben. Eine entschiedene Eloge auf den Sozialisten, als einen „großen Europäer“, kam hingegen von Helmut Kohl.

Die „Generation Mitterrand“ hat sich derweil auf eine neue Ära eingestellt. Aglaia, die zur Welt kam, als Mitterrand für seine Wahl kämpfte, hätte liebend gern seinen Nachfolger mitbestimmt. Sie ist noch vier Jahre zu jung dafür, aber ihre Wahl entspricht der Mehrheitsentscheidung der Franzosen. Aglaia wollte den Konservativen Jacques Chirac als Präsidenten. „Der ist jünger“, sagt sie, „dynamischer und mehr wie wir.“ Ihre Mutter, die trotz allem wieder sozialistisch gewählt hat, findet diese Entscheidung der Tochter normal. „Das ist eine Art zu protestieren“, sagt sie.

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