: Grass bröckelt in Amselgesang
■ Ein gelungenes Ergebnis franko-alemannischer Zusammenarbeit: Zur Überraschung der PassantInnen wird in akustischen Briefkästen derzeit Literatur gelüftet, häppchenweise und gewagt kombiniert
In verschiedenen Stadtteilen kann man in diesen Wochen immer wieder die gleiche eigentümliche Szene beobachten. Menschen gehen die Straße entlang, bleiben plötzlich auf der Höhe eines Briefkastens stehen, beäugen ihn argwöhnisch, gehen näher ran – und lauschen. Geht man selbst näher ran, kann man hören, warum: Aus den ausrangierten, golden angemalten DDR- Briefkästen ertönt Literatur. WORTspielRÄUME – eine Initiative des Institut Français und der Kunstämter Friedrichshain, Kreuzberg, Marzahn und Prenzlauer Berg.
Bis 16. Juli bleiben diese akustischen Briefkästen in Funktion, bis dahin werden PassantInnen mit musikalischen Entrees und Gedanken zur alten und neuen Hauptstadt überrascht. Das franko-alemannische Projekt will Literatur als kulturelles Gedächtnis vorführen; und so haben nicht nur zeitgenössische französische und deutsche AutorInnen das Wort: Texte von Ingeborg Bachmann, Wolf Biermann, Volker Braun und Michel Butor sind dabei, von Paul Celan, Teéophile Gauthier, Ivan Goll, Sarah Kirsch, Aras Ören, Voltaire und Christa Wolf.
Die Briefkästen auf der Karl- Marx-Allee, im Böcklerpark, im Erholungspark Marzahn und am Eingang zum Thälmannpark reagieren per Bewegungsmelder auf FlaneurInnen und Hastige und spielen dann ihr zweiminütiges Programm. Die Reaktionen darauf sind durchaus verschieden. Auf der Karl-Marx-Allee wird eher verstohlen gelauscht – die PassantInnen gehen schnell weiter, wenn sie sich beobachtet fühlen. Am Prenzlauer Berg herrscht Amüsement vor. Da umkreist schon mal einer den Kasten immer wieder, weil er sich nicht losreißen kann.
Als bei der Pressekonferenz im Institut Français nach der Entstehungsgeschichte der WORTspielRÄUME gefragt wurde, fiel immer wieder die Vokabel „enthousiasme“. Hinzuzufügen wäre: langer Atem. Zweieinhalb Jahre hat die Realisation dieser gelungenen Kulturarbeit auf der Straße gedauert. Damals saß der Pariser Schriftsteller Marc Delouze auf einer Tagung zur Berliner Stadtplanung im Centre Pompidou. Da er mit seiner Kulturfirma „Les Parvis Poétiques“ („poetische Hinterhöfe“) professionell das Niemandsland zwischen Literatur und Öffentlichkeit beackert, sprach er Nicole Bary, die Mitorganisatorin der Tagung, auf seine Idee an.
Briefkästen schlug Delouze vor, weil sie für alle eine eindeutig kommunikationsfördernde Funktion haben. Und Berlin müsse es sein, da sich in Paris niemand um einen sprechenden Briefkasten kümmern würde: „Da dreht sich keiner um!“ Ganz anders hier bei uns; die französischen und deutschen Texte, die Delouze und Bary ausgewählt haben, erregen sofort Aufmerksamkeit. Im Böcklerpark markiert der Kasten spontan den erhofften „Raum für Kommunikation“, obwohl der erste Feldforschungstag verregnet ist. Kaum tritt man heran, umringt einen eine Traube von Kindern. „Det war gestern ooch schon da.“ Ein Junge mit verschmiertem Mund freut sich besonders über das Interesse an seinem Revier und weiß – während eine Frauenstimme Gautier liest und Bachmanns galgenhumorigen „Lack“ – daß „da hinten noch so'n Teil steht“.
Ein paar Schritte weiter bröckeln Stücke aus Grass' „Brandmauer“ in den Amselgesang. Ein kleiner Kugelblitz auf seinem Fahrrad ruft: „Radio, wa?“ Am Kasten klebte ein Zettel: „Kucki“ wird gesucht, der „Vater einer Vogelfamilie“. Eine Frau bleibt stehen, lächelt konspirativ und erklärt, sie lese zwar nie Literatur, aber das hier finde sie gut und deshalb komme sie jeden Tag vorbei.
Natürlich muß man sich auch fragen: Wird Literatur nicht trivialisiert, in solchen Zwei-Minuten- Häppchen? Und überhaupt: Wer hockt da mit wem im Kästchen? Heiner Müller mit Wolfgang Hilbig zum Beispiel. Andererseits sind zwei Minuten Sarah Kirsch eine Essenz, und wie Krista Tebbe vom Kunstamt Kreuzberg richtig sagt, wird ja „keiner davon abgehalten, seine Lieblingsautoren profunder zu studieren“. Und auch wenn dieser „coup d'oreille“ unbedingt Zusatz, nicht Konkurrenz zu konventionellen „Vertriebsstätten“ sein will – es tut der Literatur durchaus gut, mal gelüftet zu werden. Gaby Hartel
WORTspielRÄUME, bis 16. 7., täglich 8–22 Uhr, Karl-Marx- Allee 97 (Friedrichshain), Böcklerpark/Urbanhafen (Kreuzberg), Erholungspark Marzahn, Thälmannpark/Eingang Prenzlauer Allee 80 (Prenzlauer Berg)
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