: Eine Naht von Vetschau nach Cottbus
Im brandenburgischen Vetschau arbeiten 30 Näherinnen an jenem silbrig schimmernden, tonnenschweren Gewand, mit dem Christo und seine Frau Jeanne-Claude den Reichstag in Berlin verhüllen wollen ■ Von Thorsten Schmitz
Am frühen Abend des 25. Februar 1994 kürt die „Tagesschau“ die Bundestagsdrucksache 12/6767 zur Spitzenmeldung. 70 Minuten haben 515 Berufspolitiker an diesem Tag darüber gestritten, ob ein Ehepaar aus Amerika den Berliner Reichstag für zwei Wochen verschwinden lassen darf. Hinter Tuch und Tau und, steuerzahlerfreundlich, auf eigene Kosten. Die Meldung über das Jawort zum diffizilen Wickelwerk der Eheleute Christo & Jeanne- Claude beflügelt noch am selben Abend die Phantasie von Dieter Wergula, 47. „Wer wird das wohl nähen?“ fragt er sich und geht mit diesem Gedanken in Cottbus schlafen. Ein paar Tage später hört er im Autoradio, daß der bulgarische Berufsverhüller Christo Städte und Städtchen in Brandenburg abklappert, auf der Suche nach industriellen Konfektionären. „Da habe ich die Löffel gespitzt“, sagt Wergula. Vor der Wende hatte er im ,VEB Textil- und Veredelungsbetrieb Neugerstorf Werk 6 Vetschau“ Zeltplanen zusammengeschweißt und Traglufthallen für die Sowjetunion eingepackt; heute führt er die Geschäfte der in „Spreewald Planen GmbH“ umgetauften Firma, die mit Plastikplanen Profit bringen soll. Der wendebedingte Aufstieg vom Arbeiter zum Geschäftsführer hat Wergula sehr schnell vertraut gemacht mit den Gesetzen des freien Marktes. Seiner Firma ging es, ebenfalls wendebedingt, die letzten zwei Jahre „beschissen, sehr beschissen“, weshalb er die Belegschaft von 220 auf ganze 18 Leute dezimierte. Und so „jagte“ er ein Fax ins Berliner Büro der „Verhüllter Reichstag GmbH“. Seine Motivation zu diesem Zeitpunkt war ein höchst bescheidenes: „Uns gibt's ja auch noch.“
Als Wergula erfuhr, daß seine Firma und die Zeltaplan im sächsischen Taucha die aluminiumbeschichtete Metallbluse für die schaurig-schöne Neorenaissance- Schachtel nähen dürfen, blieben er und seine beiden Kompagnons bescheiden – trotz des paradiesischen Auftragsvolumens von 500.000 Mark. „Man hat so ein komisches Gefühl im Bauch“, sagt Wergula und zeichnet mit der rechten Hand Kreise über seine Magengegend. Wer weiß, was die Zeit nach Christo bringt. Die zwölf zusätzlich eingstellten Näherinnen aus Vetschau werden auf jeden Fall wieder Arbeitslosengeld beantragen müssen. Die gigantische Polypropylen- Plane, die 90 „Gewebekletterer“ dem Reichstag vom 17. bis zum 23. Juni überstülpen, entspricht in etwa 15.000 Haute-Couture- Abendkleidern oder 14 Fußballfeldern. Das sprengt alle Vorstellungskraft – und aktiviert den Pioniergeist der Spreewald Planen GmbH: „Wir haben uns nicht vorgestellt, daß das mit so einer Akribie gemacht werden muß.“ Die Frage, ob das Silberkleid Kunst sei, beantwortet Wergula mit einem langezogenen „Hm“ und dem Hinweis: „Ich bin eher Otto Normalverbraucher.“
Seit Januar schneiden 30 Schneiderinnen den juteähnlichen Stoff mit Lötkolben zurecht, das knallt wie Popcorn im Topf. Und sie nähen 35 Planen zusammen, die so nicht genannt werden dürfen. Die Verhüllter Reichstag GmbH besteht darauf, daß die bis zu 50 mal 40 Meter großen Gewandstücke Paneele heißen. „Wir mußten auch erst im Duden nachgucken, was das heißt“, gibt Wergula zu. Geholfen hat das wenig, denn Paneele sind und bleiben „Holzvertäfelungen“. Eigentlich.
Aus bloßen Geweberollen zaubert die Spreewald Planen GmbH nach verwirrenden Schnittmusterbögen auf den Zentimeter genau die Bahnen, die alsbald am Reichstag einen maßgeschneidert üppigen Faltenwurf vorgaukeln. Die Stoffbahnen werden bestückt mit Gurten, Steckschnallen und überdimensionierten Knopflöchern. Jeder Schnitt und jede Naht liegt im Toleranzbereich von Millimetern. „Das ist deutsche Gründlichkeit“, lästert Wergula. Ein Ingenieurbüro in Radolfzell am Bodensee, das die Reichstagsverhüllung am Computer simuliert und die Schnittmuster ausfriemelt, überwacht unerbittlich die Einhaltung der Maßschneiderei. Und läßt sich auch schon mal zu einer Idee verleiten, auf die sie, fernab der stofflichen Praxis, nie gekommen wären. Im Bestand der Spreewald Planen GmbH lagerten Gurte aus Vorwendezeiten, die nutzlos Lagerraum okkupierten. Anstatt neue zu nähen, schlug Wergula vor, diese alten zu nehmen. So kommt die längst verblichene DDR noch einmal zum Tragen.
Neben Aquarellen des Vetschauer Heimatmalers Kschiwan hängen in den Fluren der Spreewald Planen GmbH handsignierte Skizzen vom verhüllten Reichstag. Das hat dekorativen Charakter und, bestenfalls, motivierenden: „Damit die Leute, die hier so schwer arbeiten, sich vorstellen können, wie luftig das nachher mal aussieht“, sagt Wergula. Luftig ist im Moment allein die 65 Meter lange Halle, in der die Stoffbahnen zurechtgeschnitten und aneinandergenäht werden. Es zieht bös, über ihren kleingeblümten Polyesterkitteln tragen die Näherinnen Strickwesten. Elke Lüttge, 50, hat ganz klamme Hände. Sie und ihre Kollegin Doris Heinrich, 40, hocken hintereinander an Industrienähmaschinen. Links von ihnen liegen zwei 50 Meter lange Stoffbahnen auf einem 50 Meter langen Tisch. Die beiden müssen die Bahnen doppelt zusammennähen. Dabei wird nicht der Stoff unter dem Maschinenarm hindurchgequetscht, sondern die Maschinen gleiten auf Gleisen samt Näherin am Arbeitstisch entlang. Alle paar Meter gucken Lüttge und Heinrich nach hinten, das sieht aus wie rückwärts Autoscooter fahren. Manche Paneele sind 29, manche 42 Meter lang, je nach Fassadenabschnitt. So brauchen die beiden zwischen 30 und 40 Minuten, bis sie eine Doppelnaht absolviert haben. 22 Kilometer werden die Näherinnen für 2.000 Mark netto im Monat auf ihren fahrbaren Nähmaschinen zurückgelegt haben, wenn Ende Mai die letzte der 630 Kilogramm schweren Paneele von 24 Händen zusammengerollt und in einem ausgedienten Flugzeughangar nahe Berlin zwischengelagert wird. 22 Kilometer, das ist soviel wie von Vetschau nach Cottbus.
Das Radio läuft so laut, daß der Lautsprecher vibriert. Fünf andere Frauen trennen gemeinsam einen Teil einer Paneele auf, weil sie irgendwo, natürlich mittendrin, falsch zusammengenäht worden ist. Die Hände der Frauen sind silbern vom Aluminium, ihre Gesichter ein bißchen grau, weil sie die Haare mit den Händen wegstreichen. Elke Lüttge läuft an den Bahnen entlang und schnippelt überstehende Fäden ab. „Das sieht doch nicht schön aus.“ Niemand würde wohl einen überstehenden Faden in 40 Meter Höhe entdecken können. Die Fäden stopft sie in ihre Kitteltasche, damit der Fabrikboden „sauber“ bleibt.
Doris Henrich gehört zu den 18, die geblieben sind, und hofft wie die Firmenführung, daß diesem Auftrag weitere folgen. „Dieser Stoff ist mal was anderes“, sagt sie. Wie das Kettenhemd aussehen soll, drapiert, „kann ich mir nicht vorstellen“. Elke Lüttge empfindet Wehmut hinter ihrer Nähmaschine. Sie hat acht Jahre hier genäht, bevor die DDR abhanden kam und in Vetschau noch 9.500 Menschen registriert waren. Heute sind es 1.000 weniger; und Lüttge ist arbeitslos. Jetzt hat man sie für ein Vierteljahr wieder angestellt, um den Zeitplan einhalten zu können. „Ich habe mich gefreut, zurückzukommen.“ Die Freude ist von kurzer Dauer, denkt sie vermutlich. Die Augen verraten das. Ihr Mann wird in ein paar Wochen seinen Job im Kraftwerk verlieren, sie lächelt, als schämte sie sich dafür. Und so, nur so läßt sich verstehen, warum sich die Begeisterungsfähigkeit für Christo in Grenzen hält: „Das Kunstwerk ist mir egal, Hauptsache Arbeit.“
Himmlisch ruhig in der Halle wird es Punkt zwölf. Die Näherinnen setzen sich ans Fenster und kramen aus ihren Bastkörben Thermoskannen, geschälte Äpfel und belegte Brote. Elke Lüttge mag mit diesen Silberhänden ihr Brot nicht anfassen. „Alles Gift!“ übertreibt sie, lacht und hält die Wurststulle mit einem Stück Plastiktüte fest. Doris Heinrich trinkt Traubensaft aus der Tüte; und an diesem Mittag ziehen sie über Journalisten her, die sie dazu zwingen, zehnmal den Kittel an- und wieder auszuziehen, nur weil das Licht nie gut genug ist. „Man traut sich schon gar nicht mehr in die Stadt, dauernd wird man angesprochen: ,Na, ihr Fotomodelle.‘“ Berühmt werden wollen die Frauen nicht, wirklich nicht. „Ich würde auch Männerunterhosen nähen“, blödelt Doris Heinrich, und alle lachen laut.
Nach Berlin kommt keine oft, die zwei Stunden Autofahrt passen nicht ins Zeitkontingent. Doris Heinrich ist froh, wenn sie sich nach der Arbeit um ihr Kind kümmern kann, den Haushalt macht und Abendbrot und um zehn im Bett liegt. Am 1. Juli wird es eine Ausnahme geben. Der Arbeitersamariterbund stellt einen Reisebus zur Verfügung, das hat Bürgermeister Axel Müller (SPD) organisiert. Der Bürgermeister ist stolz, daß Vetschau ein bißchen berühmt geworden ist. Er hofft, daß etwas davon hängen bleibt.
An einem frühen Samstagmorgen werden die tapferen Schneiderinnen dann zum Reichstag fahren und von unten sehen, was sie mit eigenen Händen angerichtet haben. Manche Touristen werden, für eine Pauschale von 2.900 Mark, zwei Nächte Hotel Esplanade inklusive Hubschrauberflug buchen und von oben die Hülle begutachten. Ob sie nicht doch Stolz empfinden wird? Die Frage entlockt Doris Heinrich nur ein „Joa“ und ein Grinsen.
Die Nachricht von der Stippvisite der Eheleute Christo und Jeanne-Claude breitete sich Anfang März wie ein Lauffeuer in Vetschau aus. Hand in Hand, „wie siamesische Zwillinge“ (Wergula), spazierten die beiden New Yorker Künstler, die beide am 13. Juni 60 werden, durch die Produktionshalle und inspizierten den Stoff, aus dem ihre Wirklichkeit wird. Doris Heinrich hatte an diesem Tag frei, ausgerechnet. Denn eine Frage hätte sie den Christos gern gestellt. Und dafür auch all ihren Mut zusammengenommen: „Wie kommt man denn auf so eine Idee, ein Haus zu verpacken?“
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