: Die Sensation nach der Sensation
Die Mitgliedervollversammlung der Bündnisgrünen sorgte für eine dicke Überraschung: Nicht Michaele Schreyer, sondern die Ostberlinerin Sibyll Klotz wurde zur Spitzenkandidatin gekürt ■ Von Severin Weiland
Die Sensation ist perfekt. Laute Schreie hallen durch das Moabiter Straßenbahndepot. Bayern, so verkündet gegen 18 Uhr ein Sprecher der Bündnisgrünen über das Saalmikrofon, habe zu Hause gegen Karlsruhe eins zu null verloren. Gut eine Stunde später sorgen die Mitglieder für ihre eigene Überraschung. Völlig unerwartet wählen sie mit 310 Stimmen Sibyll Klotz zur Spitzenkandidatin.
Sprachlos blickt die 34jährige von einem Podest im hinteren Teil des Saales auf die Stuhlreihen vor sich. „Das gibt's doch nicht“, stammelt sie. Ausgerechnet Klotz, die noch nicht einmal Mitglied der Partei ist, sondern für den Unabhängigen Frauenverband antrat und sechs Jahre in der SED war. Das Votum der Basis ist so überwältigend, daß es selbst die Prominenten überrascht. „Manchmal ist diese Partei ganz komisch, wie sie aus dem Nichts die brillantesten Nummern setzt“, meint die rechtspolitische Sprecherin der Fraktion, Renate Künast.
Die große Verliererin an diesem Samstag abend ist Michaele Schreyer. 277 Stimmen und damit Platz 2 der Landesliste – das hatte niemand erwartet, am wenigsten sie selbst. Vielleicht, so wird gemunkelt, wollte die Basis ihr eine Quittung für ihre Unentschlossenheit verpassen. Erst kurz vor Beginn der Mitgliedervollversammlung am Freitag abend hatte sie ihre erneute Kandidatur angemeldet. „Mein Ziel war die Spitzenkandidatur“, sagt sie nach der Entscheidung, und für einen Augenblick sieht es so aus, als denke sie an Rückzug.
Nach einem Gespräch im Kreise von Vertrauten, unter anderem Sybille Volkholz, tritt sie wenig später vor die Mitgliedervollversammlung. Ein Applaus donnert ihr entgegen, als wollten die Mitglieder Wiedergutmachung leisten. Einzig Wolfgang Wieland macht ein etwas gequältes Gesicht. Mit 241 Stimmen hat er das Quorum nur knapp übersprungen.
An die 60 Kandidaten waren für die Landesliste angetreten. Zu anderen Zeiten hätte dies einen Kleinkrieg bei den Bündnisgrünen ausgelöst. Doch so kräftig wie der Applaus am Samstag abend war, so harmonisch war insgesamt die dreitägige Mitgliederversammlung. Selbst als am Freitag über einen Kompromißantrag zur zukünftigen Regierungskoalition abgestimmt wurde, waren zuvor zwei Änderungsanträge des linken Flügels um Rechtsanwalt Christian Ströbele miteingearbeitet worden, die auf eine stärkere bündnisgrüne Rolle in einem künftigen rot-grünen Senat setzen. Ohne größere Debatte wurde der Antrag, der das Thema PDS geschickt ausklammerte, verabschiedet.
Die Eintracht nahm zuweilen gespenstische Züge an. Bei der Kandidatenvorstellung schonte man sich gegenseitig, als hätten sich die Mitglieder einem Benimmkurs unterzogen. Auch die Abgeordneten, sonst unter der Etikette „Promis“ mißtrauisch beäugt, stießen weitgehend auf Gnade. Einer ganzen Reihe von Abgeordneten, die länger als eine Legislaturperiode im Parlament gesessen oder, wie Schreyer, zuvor als Senatorin unter Rot-Grün gearbeitet hatten, wurde anstandslos über die Zweidrittelhürde geholfen, die sie brauchten, um überhaupt für die Landesliste kandidieren zu können. So wurde in der Praxis die immer noch geltende Rotationsbestimmung ausgehebelt.
Trotz der überwältigenden Zahl der Kandidaten (rund 60) für die 18 bis 20 aussichtsreichsten Listenplätze zeigte das Wochenende das Dilemma der Bündnisgrünen, das sie mit anderen Parteien teilt: wenige qualifizierte, vor allem aber wenige junge Bewerber. Die große Mehrheit im Saal war weit über 30. Das spiegelte sich dann im Ergebnis: Unter den ersten zehn auf der Landesliste war nur ein neues Gesicht, das der Ostberlinerin Jeannett Martins.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen