: Ungeliebtes Stiefkind Istanbul
■ Gespräch mit Ragip Zarakolu, Verleger und Mitglied des türkischen PEN-Clubs
taz: In Ihrem Verlag erscheint die Reihe „Mare Nostrum“, in der Literatur aus Mittelmeerländern und vor allem vergessene nichtmuslimische Istanbuler Autoren neu publiziert werden. Warum der Titel „Mare Nostrum“?
Zarakolu: „Mare Nostrum“ ist unser Meer. Der Titel ist gleichsam eine Provokation. Mussolini hat diesen Ausdruck auch benutzt. Wir versuchen, ihn Mussolini streitig zu machen. Dieses Meer gehört uns allen. Allen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die am Mittelmeer leben. Hier haben wir über Jahrhunderte zusammengelebt, gekämpft, geliebt und produziert. Und ich glaube, auch in der Istanbuler Bevölkerung existiert die Sehnsucht wider den Chauvinismus und Nationalismus. Der Roman der griechischen Autorin Dido Sotiriyu über die Vertreibung der Griechen aus Anatolien hat bereits die zehnte Auflage. Sie wurde auf der Istanbuler Buchmesse empfangen wie eine Heilige. Es gibt viele Köpfe, die nicht vom Rassismus verdreckt sind.
Ist „Mare Nostrum“ auch ein Teil Ihrer eigenen Biographie?
Es sind auch Kindheitserinnerungen. Ich habe mein ganzes Leben in Istanbul verbracht. Ich bin auf der Insel Prinkipo geboren, habe am Bosporus und in Bakirköy gelebt. Seit meiner Kindheit war es etwas Alltägliches, mit Menschen anderer Herkunft zusammenzuleben. Ich hatte Freunde, die ich liebte. Diese Welt ist später zur Geschichte geworden, sie ist verlorengegangen. Während des Zypern-Konfliktes 1964 war ich auf dem Gymnasium. Ich hatte einen Freund namens Stelyo. Eines Tages sagte man: „Stelyo ist weggegangen.“ Es gab keinen Wirbel. Klammheimlich hat man alles erledigt. Zeitungsmeldungen: „Die in Istanbul lebenden Griechen wurden zurückgeschickt.“ Innerhalb weniger Tage wurden die Griechen, die ältesten Einwohner dieser Stadt, vertrieben. Plötzlich, von heute auf morgen, hat man sie zu Fremden erklärt. Ich erinnere mich an den Armenier Agop, einen Freund der Familie. Ich erinnere mich an Onkel Sipur, den Spielzeughändler, der für mich als Kind von größter Bedeutung war. Als Kinder haben wir von allen religiösen Festen profitiert. Egal ob der Festtag jüdisch, christlich oder muslimisch war, es gab Geschenke. Zu Ostern gab es Eier und Schokolade. All das hat der Chauvinismus kaputtgemacht. Nach der Gründung des Staates Israel sind die Juden ausgewandert. Ein Grund war die Diskriminierung in den Jahren 1943/44. Damals wurde eine Sondersteuer für Nichtmuslime verfügt. Leute, die die Steuer nicht zahlen konnten, kamen in Lager.
Kürzlich nahm ich im Auftrag des Menschenrechtsvereins an einem „briefing“ für ausländische Diplomaten teil. Ein Attaché vom griechischen Konsulat kam auch. Und plötzlich spricht er in feinstem Istanbuler Türkisch. Ein Türkisch, das es heute kaum noch gibt. Da stellt sich heraus, daß der Mann Istanbuler ist und im Viertel Kadiköy lebte. Wir schwelgten in Erinnerungen an die alten Zeiten. Ein kurdischer Freund war dabei. Ich wandte mich zu ihm und sagte: „Du bist in dieser Stadt neu, und nun siehst du einen alten Einwohner, der heute zum Ausländer geworden ist.“ Die Geschichte der Stadt ist bitter. Diejenigen, die heute Kurden verfolgen, haben damals nationalistische Kampagnen gegen Nichtmuslime organisiert.
Heute gibt es einen Zuzug vom Schwarzen Meer, aus Mittelanatolien und Kurdistan. Mittlerweile existieren in Istanbul kurdische communities...
...Bereits in den fünfziger Jahren kam es zu einer gewaltigen Zuwanderung. Ganze alewitische Dörfer leerten sich, während in Istanbul alewitische Viertel entstanden. Istanbul ist wie ein Miniaturmodell der Türkei. In Istanbul leben mehr Menschen aus der Provinz Tunceli im Südosten Anatoliens als in Tunceli selbst. Die Unmenschlichkeit der Vertreibung, der abgebrannten kurdischen Dörfer ist auch in Istanbul sichtbar. Leere, verfallende Häuserzeilen, die die Griechen verlassen haben und wo heute unter erbärmlichen Bedingungen kurdische Migranten leben. Auf der anderen Seite die neuen Siedlungsgebiete der Peripherie, wo über Nacht Baracken errichtet werden. Istanbul ähnelt dem Wilden Westen. Wo gestern ein freies Feld war, stehen heute Baracken und Betonbauten nebeneinander. Morgen ist daraus eine neue Stadt geworden.
In dieser Stadt sind kulturelle Ghettos entstanden. Man streift durch ein Viertel, wo fast ausschließlich Kurden leben. Viele sind Anhänger der PKK. Dann alewitische Viertel, wo der heilige Ali verehrt wird. Dann wiederum Viertel, wo fast ausschließlich Anhänger von islamisch-fundamentalistischen Sekten leben. Wie verhält sich der Staatsapparat dazu?
Istanbul ist heute eine Stadt außerhalb jeder Kontrolle. Es grenzt an ein Wunder, daß diese Stadt mitsamt ihrer Widersprüche relativ wenig Sicherheitsprobleme hat. Dies ist ein Resultat der inneren Disziplin der Communities. Die Communities verfügen über Kontroll- und Sicherheitsmechanismen. Was Morde, Raubüberfälle und andere kriminelle Delikte betrifft, ist Istanbul immer noch eine relativ sichere Stadt. Sie ist nicht Rio de Janeiro. Aber ich glaube, Istanbul trägt ein gewaltiges Risiko. Wenn der Staat die Politik der Intoleranz, der Unterdrückung und Leugnung von Identitäten fortsetzt, ist Istanbul auf dem besten Wege, ein zweites Beirut zu werden. Eine Stadt, wo der Konflikt der Communities mit Waffengewalt ausgetragen wird.
Die Istanbuler Oberschichten schwärmen von den Zeiten, als noch Griechen, Armenier und Juden im Stadtbild präsent waren. Von den kultivierten Griechen ist die Rede. Sie beklagen, daß jetzt das muslimische Anatolien eingewandert ist. Von „ungebildeten“ Kurden, von „rückständigen“ Fundamentalisten ist die Rede. Sie beschweren sich über das Ende urbaner Kultur. Sie sprechen von Personen, die auf die Straße spucken, von der kurdischen Mafia...
...Die Heuchler. Sie beschweren sich über Stadtzerstörung. Dabei haben sie für ein paar Lira ihre Häuser an die Bauunternehmer verkauft, die alles abrissen und so das historische Erbe zerstörten. Als ihre griechischen Mitbürger vertrieben wurden, haben sie nichts unternommen. Statt dessen waren sie scharf auf die Wohnungen und Häuser, die die Vertriebenen hinterlassen hatten. Zu Spottpreisen haben sie die Häuser aufgekauft. Nun, heute sind andere gekommen – die Kurden. Die Migration ist quasi natürliche Folge des Kolonialismus. Wenn Sie der Kolonialist sind und das Recht auf Ihrer Seite wissen, andere zu beherrschen, kommen die Beherrschten irgendwann zu Ihnen, ob es die Schwarzen Londons, die Algerier von Paris oder die Surinamesen Amsterdams sind.
Ist Migration denn ein neues, republikanisches Phänomen in dieser Stadt? Oder war Gewalt nicht immer die Grundlage demographischer Veränderung und Migration, sowohl in byzantinischer als auch in osmanischer Zeit?
Wahrscheinlich ist keine Stadt in ihrer Geschichte so oft vergewaltigt worden wie Istanbul. Istanbul ist eine wahre Metropole und war eine Zeitlang die größte und reichste Stadt der Welt. Ihr Reichtum und ihre Schönheit haben die Gewaltphantasien der Eroberer genährt. An der Serailspitze – versteckt zwischen den Bäumen – steht eine gotische Säule. Sie erinnert an die Befreiung von Byzanz von der gotischen Invasion. Der Westen hat als erster diese Stadt vergewaltigt. Die hungrigen Bauernmassen Europas haben diese prächtige Stadt geplündert. Der erste Niedergang der Stadt kam nach der Eroberung und Plünderung durch die Römer. Die Osmanen haben eine verarmte Stadt übernommen. Die Expansion der Osmanen ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß Byzanz, welches die Barbarei der römischen Eroberer erlebt hatte, die Sklaverei unter den Osmanen der römischen Sklaverei vorzog.
Gibt es in Istanbul überhaupt eine gemeinsame urbane Kultur?
Ich habe Angst davor, daß sich die Menschen in ihre eigenen Gefängnisse einsperren. Die Herrschenden unterstützen diese Zustände, um besser zu regieren. Die einstige Universalität der Stadt ist verloren. Früher sind im Sommer sowohl der arme jüdische Arbeiter als auch der griechische Ladenbesitzer mit der Fähre zu den Inseln gefahren, um dort ihre freien Tage zu verbringen. Heute prägen kulturelle Abgründe die Lebenskultur. In Istanbul finden Sie das Elend einer Dritte-Welt-Metropole neben den Häusern in Ulus, die in nichts dem Wohlstand reicher US-Bürger nachstehen. In der Stadt sind Mauern gezogen worden. Die Umweltzerstörung und die Vernichtung von Grün haben immense Ausmaße erreicht. Es sind Gefängnisse aus Beton errichtet worden. Vor hundert Jahren ähnelte Istanbul mehr einer Stadt als heute. Ich glaube, daß die türkische Republik aus einem Minderwertigkeitskomplex diese Stadt als Stiefkind behandelt und damit zu dem Niedergang von Universalität beigetragen hat. Das kosmopolitische Istanbul galt als Verräterin, an dem Rache geübt wurde. Diese Republik hat Istanbul nie geliebt.
Das Gespräch führte
Ömer Erzeren
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen