■ Jacek Kuron, früher in der Solidarnoführung, heute Präsidentschaftskandidat, über das, was die PolInnen wirklich bewegt: "Ich bin der populärste Politiker Polens"
taz: Herr Kuron, Sie sind auch im Westen bekannt geworden durch die „Kuroniowka“, die kostenlose Suppe für Arme, die überall in Polen ausgegeben wird. Jeder weiß, daß Ihr Land große soziale Probleme hat. Reicht da ein Schlag Suppe?
Jacek Kuron: Ganz und gar nicht. Das ist ein Mißverständnis. „Kuroniowka“ ist ein mehrdeutiges Wort. Hauptsächlich ist es die Bezeichnung für die Arbeitslosenhilfe. Natürlich reichen Suppen nicht, wir haben die am Anfang eingeführt als eine Art Soforthilfe, als Zeichen, daß wir alle zusammen eine schwere Zeit durchleben und in einem Boot sitzen. Wir haben drei Systeme aufgebaut: ein Sozialhilfesystem für diejenigen, die keinerlei andere Unterhaltsmöglichkeiten haben; wir haben ein Arbeitslosensystem, in dem Arbeitslose registriert, vermittelt und umgeschult werden. Als nächstes muß das Wohnungsbausystem reformiert werden.
Bietet Ihr Sozial- und Arbeitslosenhilfemodell den Arbeitslosen nicht statt der Angel nur einen Fisch an?
Das ist ein notwendiges Übel, das man nur durch schnelle Arbeitsplatzvermittlung beheben kann. Unsere Erfahrungen zeigen, daß gutfunktionierende Arbeitsämter die Zahl der freien Arbeitsplätze vervielfachen. Man kann das ausweiten durch staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei denen noch dazu Infrastruktur entsteht. Außerdem haben wir Steuererleichterungen für Investoren beschlossen, die ihr Geld in Gebiete mit strukturell hoher Arbeitslosigkeit stecken.
Kredite für Existenzgründungen werden aber kaum in Anspruch genommen ...
Zum Glück, denn wir haben nur ein sehr schwaches Beratungsnetz für Existenzgründungen. Wir haben noch ein anderes Problem – den grauen Markt: Leute, die das Arbeitslosengeld kassieren und trotzdem arbeiten. Jeder zweite Arbeitslose arbeitet auf dem Schwarzmarkt. Und es werden immer mehr. Unser Export hat sich in den Grenzregionen verdoppelt – eine gigantische Masse Menschen arbeitet dort, aber die kassieren gleichzeitig Beihilfe. Deshalb bin ich für eine Steueramnestie: Du meldest dein Gewerbe an und bist dafür ein Jahr steuerfrei. Ich bin überzeugt, es gibt eine Menge Menschen, denen es überhaupt nicht gefällt, sich in illegalen Verhältnissen zu bewegen.
Steuern zahlen auch jene Polen nicht gern, die sich für große Patrioten halten. Heißt das nicht, daß sie zum Staat nach fünf Jahren Demokratie noch das gleiche negative Verhältnis haben wie zum kommunistischen Staat?
Ein interessantes Phänomen. Die Bürger haben ein ähnliches, aber doch auch ein bißchen anderes Verhältnis zum Staat als vor 1989. Der Staat damals, das waren „die da oben“ – aber die haben was hergegeben. Heute sind das auch „die da oben“, aber sie geben nichts mehr her. Gleichzeitig hat eine enorme Explosion lokalen Engagements stattgefunden. Auf diese Weise ist das vorherige, staatsfeindliche Verhältnis der Bürger zum Staat schwächer geworden. Die Leute haben kapiert, daß der Staat nicht mehr viel zum Verschenken hat. Sie sind unzufrieden mit den Politikern, aber sie erwarten keine Wunder mehr von ihnen. Deshalb haben wir eine Chance, Patriotismus von unten zu bauen. Deshalb betonen wir die Wichtigkeit der kommunalen Selbstverwaltung. Früher haben die Leute vom Staat erwartet, daß er ihnen was gibt. Heute erwarten immer mehr Menschen vom Staat nur, daß er entsprechende Gesetze und Bedingungen schafft. Daß der Staat für die Bürger ein feindliches Wesen ist, ist keine Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, sondern mehrerer hundert Jahre. Damit der Staat als der eigene anerkannt wird, müssen die Bürger die Möglichkeit erhalten, ihn sich anzueignen.
Wir sprechen die ganze Zeit von den Verlierern der Reformen. Bei den Gewinnern dagegen gibt es ja in Osteuropa oft so eine Laisser- faire-Einstellung. Der tschechische Ministerpräsident Václav Klaus etwa will eine „Marktwirtschaft ohne Adjektive“. Das heißt, er lehnt die soziale Marktwirtschaft ab. Wo aber hat ihre Reform die Basis, bei den Gewinnern oder den Verlierern?
Dieses Laisser-faire ist eine naive Gegenreaktion auf den übertriebenen Staatsinterventionismus davor. Aber auch Klaus redet nur davon, seine Taten sprechen eine andere Sprache. Man kann nicht reformieren ohne staatliche Eingriffe. Aber man muß den Staat vorher dezentralisieren und zur Selbstverwaltung führen. Ich habe Schwierigkeiten, die Frage nach der politischen Basis zu beantworten. Unsere politischen Parteien sind schwach, haben wenig Einfluß und beschäftigen sich mit Sachen, die mit dem wirklichen Leben nur wenig zu tun haben. Aber es gibt eine Explosion der gesellschaftlichen Aktivität: NGOs, kommunale Selbstverwaltungen, Vereine, Gewerkschaften. Ich habe gesellschaftliche Unterstützung für mein Konzept, nicht zufällig bin ich dauernd der populärste Politiker Polens. Wir haben in Polen eine Krankheit: Die Politiker isolieren sich von der Gesellschaft, und die Gesellschaft isoliert sich von der Politik. Für mich ist die These, daß die Gesellschaft die Reformen ablehnt, zu pauschal. Die Gesellschaft braucht Reformen im Gesundheitswesen wie die Luft zum Atmen. Und das weiß sie auch.
Ihre Gegner werfen Ihnen vor, Sie wollten einen „historischen Kompromiß“ zwischen früheren Kommunisten und früheren Antikommunisten herbeiführen...
Die Sozialisten sind eine Partei der Angst. Es gibt keinen Grund, sie Kommunisten zu nennen. Das sind sehr unterschiedliche Leute. Die haben nur eine Leiche im Schrank – sie rechnen immer noch auf die Wählerstimmen derer, die der Volksrepublik nachtrauern. Sie schaffen es nicht, mit der Volksrepublik ins reine zu kommen. Die Gesellschaft ist in zwei Hälften geteilt, was den Streit um die letzten fünfzig Jahre angeht. Wenn jemand sagt: „Wir können mit dieser Spaltung leben und um sie herum die Zukunft bauen“, dann weiß er nicht, wovon er redet. Er will das Land ruinieren.
Ich bin dafür, daß wir uns um die Zukunft streiten und daß sich die Leute entlang dieser Diskussion spalten und streiten. Daneben können wir uns um die Vergangenheit streiten. Aber nicht anstatt, sondern daneben!
Aber gerade jetzt macht sich die Vergangenheit ja bemerkbar, indem im Parlament zwei Parteien fast eine Zweidrittelmehrheit haben, die den Reformen der letzten fünf Jahre sehr kritisch gegenüberstehen. Wäre das nicht anders, wenn die Debatte um die Vergangenheit radikaler und früher geführt worden wäre?
Noch radikaler als in Deutschland konnte man es kaum machen. Dennoch sind die Kommunisten in den ostdeutschen Ländern sehr stark.
Aber sie sitzen nicht in der Regierung. Und im Bundestag bilden sie nicht mal eine Fraktion.
Stimmt. Weil ihr euch vereinigt habt und eine Menge Geld reingepumpt habt. Aber in Ungarn gab es antikommunistische Säuberungen, und die Kommunisten haben die letzten Wahlen gewonnen. In Tschechien gab es vorsichtige Säuberungen, und in der Regierung gibt's weder Kommunisten noch Antikommunisten. Und in der Slowakei sind die Kommunisten sehr stark. Trotz der Säuberungen. Säuberungen machen Kommunisten erst stark, weil sie Parteien der Angst entstehen lassen. Es bleibt die Tatsache, daß über die Hälfte der Gesellschaft eine Nostalgie für die Volksrepublik hegt.
Eben. Und zwar die polnische Gesellschaft.
Wenn wir mit einer antikommunistischen Säuberung angefangen hätten, wäre die Nostalgie für die Volksrepublik noch größer. Außerdem bin ich überhaupt nicht der Ansicht, daß diese zwei Drittel im Parlament den Reformen feindlich gegenüberstehen, nur weil sie postkommunistisch sind. Im Parlament haben wir die Bauernpartei, aber jede Bauernpartei, egal ob postkommunistisch oder nicht, ist reformfeindlich, das ist eine Widerspiegelung der Situation der Landwirtschaft. Die Sozialisten sind gespalten. Was die Politik ihrer Regierung angeht, so machen sie jetzt genau das weiter, was sie zuvor am heftigsten angegriffen haben.
Aber Ihre Partei hat Präsident Walesa und nicht der herrschenden Koalition vorgeworfen, eine Gefahr für die Demokratie zu sein.
Weil die Regierung bis jetzt keine Gefahr für die Demokratie darstellt. Aber Walesa war eine Zeitlang eine Gefahr, und das mußte man ihm sagen.
Kommt Ihnen das nicht komisch vor, daß Sie Walesa wegen Verstößen gegen die Verfassung vor das Staatstribunal stellen wollten, während Ex-Staatschef Jaruzelski bis heute für sein Vorgehen gegen die Solidarność nicht verurteilt wurde?
Der Fall Jaruzelski ist die ganze Zeit im zuständigen Parlamentsausschuß zur Vorbereitung für das Staatstribunal. Ich verstehe dieses ganze sentimentale Gequassel nicht: Walesa hat die Auflösung des Parlaments angekündigt, er wurde darüber informiert, daß er dann vors Tribunal kommt, weil er nicht das Recht hatte, das Parlament aufzulösen.
Die Drohung Walesas hat dazu geführt, daß eine neue Regierung gebildet wurde. Sie hat verhindert, daß der Nato-Gegner und frühere kommunistische Politologe Longin Pastusiak Verteidigungsminister und der in den USA gesuchte kommunistische Ex-Spion Marian Zacharski Geheimdienstchef geworden ist.
Für mich ist die neue Regierung unter Premierminister Oleksy weder schlechter noch besser als die alte Regierung unter Pawlak; deshalb kann ich ihm dafür keine Verdienste anrechnen. Aber für Walesa wär Pawlak meiner Ansicht nach bequemer gewesen. Was Zacharski und Pastusiak angeht, so weiß ich bis heute nicht, warum die für den Posten vorgeschlagen wurden. Das sind diese Schachereien um Ministerposten, die dem Ansehen unserer Politiker im Volk so schaden. Wir haben über Renten, Pensionen, Sozialversicherung, das Verhältnis zum Staat gesprochen – das sind wichtige Dinge für die Menschen. Und plötzlich sind wir zu Dingen gekommen, die den Durchschnittspolen überhaupt nicht interessieren.
Fast überall in Osteuropa verlieren die regierenden Parteien die Wahlen. Das sieht nicht gerade nach einer Stabilisierung des politischen Systems aus.
Im Gegenteil. So entsteht Demokratie. Jetzt werden Parteien gewählt, die bisher noch nicht regiert haben. Deshalb war es ganz nützlich, daß die Postkommunisten die Wahlen gewonnen haben. Das kommunistische System ist an seiner eigenen Last untergegangen. Eine Rückkehr wird es nicht geben. Wenn ich das sage, muß mir das keiner glauben. Aber wenn das die regierenden Kommunisten beweisen, dann wird es als Tatsache akzeptiert. Die Leute wollten den Kommunismus nicht zurück, sie wollten den Wohlfahrtsstaat zurück. Aber sie werden auch realistischer. Das hängt mit dem Trend zur Selbstverwaltung, zum Selbst- in-die-Hand-Nehmen zusammen: In den letzten vier Jahren haben wir genauso viele Wasserleitungen gebaut wie in den fünfzig Jahren davor. Die Leute glauben mehr an ihre eigene Kraft und verlieren ihre Illusionen über die Politiker.
Aber da bleiben immer noch jene 40 bis 60 Prozent der Wahlberechtigten, die nicht wählen gehen und sich überhaupt nicht für Politik interessieren, weder für kommunale noch für nationale.
Sie reden von Wahlen, ich von verschiedenen anderen Aktivitäten. In jeder Gesellschaft gibt es eine Gruppe, die sich um nichts als um sich selbst kümmert. Aber auf lokaler Ebene gibt es sehr, sehr viele Aktive. So entsteht eine moderne Gesellschaft.
Irgendwann werden sich dann alle kommunal engagieren, aber keinen wird der Staat etwas angehen. Und die gleichen Leute, die da Wasserleitungen bauen, schicken völlig zufällige und beliebige Politiker ins Parlament.
Sicher nicht. Es wird schon jetzt zwischen Spreu und Weizen getrennt. Fünf Jahre zum Aufbau einer Bürgergesellschaft, das ist wenig. Interview: Klaus Bachmann
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