■ Christo verhüllt
: Bannmeile steckt Kunstgrenze ab

„Freie Republik Christo“ um den Reichstag? Wird der historische Boden um das Gebäude aus dem Bundesgebiet ausgegliedert, der deutschen Hoheitsgewalt entzogen und einem bulgarischen Packer unterstellt? Folgt dann dort alles dem Diktat eines Künstlers?

Im Oktober vergangenen Jahres trafen sich Vertreter der Bezirksämter Mitte und Tiergarten mit dem Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude.

Die Besucher aus Übersee hatten ein außergewöhnliches Anliegen: Um den Berliner Reichstag herum sollten während der drei Wochen im Sommer überhaupt keine Aktivitäten auf den öffentlichen Grün- und Freiflächen stattfinden; sie sollten, soweit möglich, von den Behörden untersagt werden. Das Ehepaar aus New York wollte das Gebiet allein seiner Hoheitsgewalt unterstellen, die Grenzen hatten sie vor dem Gespräch abgesteckt:

Von der Straße des 17. Juni auf der Höhe der Entlastungsstraße läuft sie Richtung Osten auf das Brandenburger Tor zu, schließt den Potsdamer Platz ein, zieht sich dann die Luisenstraße hoch nach Norden über die Spree bis zu den S-Bahn-Gleisen zwischen Friedrichstraße und Lehrter Stadtbahnhof.

An diesen Gleisen entlang läuft die Grenze bis zum Karlplatz. Das Sperrgebiet verfolgt dann am Spreeufer jenseits des Flusses den Spreebogen bis zum Ende der Krümmung. Auf der Höhe des Hauses der Kulturen der Welt läuft die Grenzmarke quer über das Gewässer zurück zur Straße des 17. Juni über die Paul-Löbe-Straße, die Große Querallee, die John-Foster-Dulles-Allee und die Entlastungsstraße. Die Beamten aus den Berliner Bezirken erklärten sich einverstanden. Keiner weiß, warum, und vom 17. Juni bis zum 6. Juli gehört der Bereich um das deutsche Parlament einem Bulgaren. Kaum haben die Deutschen ihre volle Souveränität wiedererlangt, geben sie sie wieder ab an einen in die USA ausgewanderten Superkünstler.

Innerhalb des Zwergstaates gelten allein seine Gesetze. Dem Kapitalismus will Christo in dieser Insel endlich Grenzen setzen: Jegliche neue kommerzielle Aktion, die vor der Ausgliederung noch nicht stattgefunden hat, ist unter Strafe gestellt. Da dem Herrscher noch Vollstreckungsbeamte für Gesetzesbrecher fehlen, springen Berliner Beamte aus dem Nachbarland ein, wenn Würstchenbuden oder Kettenkarusselle die Idylle stören sollten. Unbehelligt bleiben nur die deutschen Fußballspieler vor dem Reichstag und die fliegenden Händler, die sich mit Alt-DDR- Gut hinter dem Gebäude eingerichtet haben. Sie dürfen bleiben. Ein Stück deutsche Kultur im besetzten Gebiet. Ob das Fürstentum Christo so autark wird leben können? Auch die Schiffahrt auf dem Spreebogen will er einschränken, wenn sie kommerziell betrieben wird. Das einzige, was dem neuen Herrscher fehlt: ein Palast. Nina Kaden