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Scheherazade wird Rrriot Girrrl

Transkulturelles, Gepixeltes und viel Didaktisches: Die 46. Biennale in Venedig war trotz eindringlicher Selbstbespiegelungen eine der Medien  ■ Von Harald Fricke

Lesen kann man die Namen nicht mehr genau, schon in der vierten Reihe verschwimmen die Buchstaben. Es sollen immerhin über 15.000 KünstlerInnennamen sein, den eigenen mit eingeschlossen: Die Arbeit von Christian Boltanski am Eingangsportal des italienischen Pavillons gedenkt auf ihre Weise hundert Jahren Biennale, indem sie aufzählt, was dieser Tage zwischen Giardini und San Marco kaum mehr nacherzählt werden kann. Und auch Jean Clair stellt im Katalog nicht ohne Bewunderung fest, daß seit 1895 mehr KünstlerInnen in Venedig ausgestellt haben als Menschen im Florenz der Renaissance lebten. Die Kunstgemeinde – ideale Stadt oder beklemmendes Szenario? Die Form, die Boltanski gewählt hat, erinnert an Gedenkstätten, an Yad Vashem und Washington.

Den meisten, die zur Eröffnung nach Venedig gereist waren, ist das Spektakel zu groß, zu unübersichtlich, zuviel geworden. Werner Spiess von der FAZ konnte sich in seiner Biennale-Beschimpfung nicht einmal mehr genau an die Bilder erinnern, die er kritisierte. Der russische Beitrag, ein augenzwinkernder Spendenaufruf für das desolat wirtschaftende Land, wurde bei ihm zur Abrechnung mit dem „roten Desaster“. Sein Versagen vor der Materialschlacht ist sogar ein bißchen nachvollziehbar: Weil Jean Clair, diesjähriger Leiter der Biennale, aus Ärger über die schlechte Qualität junger Kunst auf den letzten beiden „Aperto“- Shows die Alternativveranstaltung zum Wettkampf der Nationen- Pavillons abgeschafft hat, scheint sich jetzt beinahe rhizomatisch in bald jedem Palazzo Kunst ausgebreitet zu haben. Im Hafen liegen Schiffe vor Anker, auf denen sich die neueste Riege der Konzeptkunst austoben kann, in irgendeiner abgelegenen Kirche hat der Schweizer Christian Marclay seine Geräuschkulissen in Gummi verpackt. Zum Labyrinth der venezianischen Gassen fügt sich das der Kunst, und die meisten Kontore bleiben unbeachtet am Wegesrand liegen.

Die Engländer zeigen im landeseigenen Pavillon mittelprächtige, fett aufgespachtelte Portrait- und Landschaftsmalerei von Leon Kossoff, und gleichzeitig – ein Schlichtungsversuch gegenüber den heimischen Galeristen – „General Release: Young British Artists“, vom British Council in einer Klosterschule abgehalten; ein Versuch, den Spirit der „Aperto“ wenigstens auf regionaler Ebene aufrechtzuerhalten. Dort dürfen die Chapman-Brüder ihre zerhackten und kastrierten Splatter-Schaufensterpuppen ausstellen, als Hommage an Goyas Kriegsbilder; dort hängen Jane und Louise Wilsons LSD-Fotografien mit psychedelischen Kristallkugeln und Asiatinnen, denen Seifenblasen aus dem Mund wachsen. Kollegen aus der Klasse von Damien Hirst sind auch vertreten, David Hume mit obskuren Lackpostern und Douglas Gordon, der großformatige Video- Wände aus frühen Psychiatrie- Dokumentarfilmen installierte. Alle haben sie viel von Bruce Nauman und den Billig-Pop-Fantasien der frühen Siebziger gelernt, aber nur wenig hinzuzufügen.

Dem Überangebot hat sich auch Jean Clair beugen müssen. Seine Jubiläumsausstellung „Identity and Alterity“, deren Titel Programm der diesjährigen Biennale ist, wurde gleich auf drei Orte verteilt. Nicht wegen der selbst in Venedig dominierenden Kunstpolitik der kleinen Schritte, nicht um der vielgepriesenen Dezentralisierung willen, sondern aufgrund der Fülle an Material – hundert Jahre Darstellung des Körpers und fünfmal so viele Exponate. Der dazugehörige Katalog umfaßt 600 Seiten, doppelt soviel wie der Reader über die Länderaktivitäten in den Giardini.

Der Direktor des Picasso- Museums und gestrenge Kunsthistoriker sieht seine Aufgabe in der bloßen Bestandsaufnahme. Wo der Körper in hundert Jahren mitunter rasend schnell zwei Weltkriege, Faschismus, Stalinismus und soziale Marktwirtschaft sowie mehrere technische Revolutionen durchleben mußte, sieht er eine Aneinanderreihung von lauter Ismen und Positionen. Clair zeigt nicht, warum Picasso den Kopf zerbrochen hat oder die Wiener Aktionisten den Körper verschnüren, ausradieren und auflösen konnten, er geht stur die Galerie entlang. Zur Jahrhundertwende beschäftigen sich die Künstler mit der Sorge ums Selbst, im Krieg werden Opfer gezeichnet, zwischendurch entfaltet sich so etwas wie die Rückkehr zum Eros, am Ende sind die Geschlechter aufgelöst. Was man mittlerweile in jedem Taschenlexikon beim ersten Durchblättern querlesen kann, überzeugt nur durch die Dichte der Werke. Fast jedes Kabinett sprengt den Rahmen: 15 David-Hockney-Zeichnungen allein aus dem vergangenen Jahr, dazu fünf speckige Öl- Portraits von Lucien Freud und eine Serie mit R. B. Kitajs Allegorien, der spät erst in diesem Jahr mit dem Jury-Preis für Malerei bedacht wurde. In einem anderen Raum hängen Bilder von Malewitsch gleich im Dutzend, um den Weg vom Suprematismus zurück zur sozialistischen Darstellung realer Bauern nachzuzeichnen; daneben neun abstrakte Ikonen Alexej von Jawlenskys – ästhetische Revolutionen im Schnelldurchlauf, wobei sich trotzdem keine Begeisterung widerspiegelt. Clair ist Didaktiker und schult am entsprechenden Bildmaterial.

Vielleicht ist es dieser unbarmherzige Blick dessen, der seine eigene Nähe im Bezug auf den Gegenstand zum Maß der Geschichte erhebt, mit dem Clair auch NS- und „entartete“ Kunst gleichstellt. Plötzlich hängen unkommentiert Adolf Wissels ideal-arische „Kalenberger Bauernfamilie“ (1939) und Felix Nussbaums „Selbstbildnis mit Judenpaß“ (1943) beieinander. Dies alles gab es also, und den Fortschritt: Auf diese Weise werden auch Häftlingsfotos aus Auschwitz mit Andy Warhols Drucken aus der „Most Wanted Man“-Serie und Marcel Duchamps Selbstbezichtigungs-Poster kombiniert. Als hätten Bilder keinen Rahmen.

Tatsächlich hat Clair mehr die Durchschlagskraft des Mediums bildende Kunst im Sinn als dessen sozialen Kontext. Immer wieder zeichnet er den Werdegang technischer Errungenschaften und deren Einfluß auf die Bildproduktion nach, wie etwa im Kontrast von Etienne-Jules Mareys chronofotografischem Gewehr mit den futuristischen Bewegungsstudien von Giacomo Balla. Aber selbst hier dominiert der Positivist über den Erzähler. Wenn er sich schließlich realen und virtuellen Körpern zuwendet, erscheinen die Zerreißproben des Wiener Aktionisten Günter Brus als Vorstufe der Inszenierungen bei Cindy Sherman, werden Mona Hatoums Kamera- Reisen durch den eigenen Körper als Paßstück zwischen einem mechanischen Puppen-Ballett und chinesischer Agit-Pornografie vorgeführt. Einen solch unsensiblen Umgang mit dem Körper findet man nur noch selten. „Identität und Andersheit“ wird zwar ganzheitlich erfaßt, aber nicht wirklich differenziert.

Daß „das andere“ trotzdem in Venedig angekommen ist, zeigt die ungleich einfühlsamere Ausstellung „Transculture“, nur zwei Straßen von Clairs buchhalterischer Jahrhundert-Bilanz entfernt. Dort hat die „Japan Foundation“ knapp ein Dutzend KünstlerInnen aus Asien, Südamerika und Kanada zusammengebracht, die etwas von der derzeitigen Atmosphäre wiedergeben, in der Peripherie und Zentrum aufeinandertreffen. Sie ergänzen sich in der jeweiligen Situation. Man muß nicht anknüpfen können, aber wissen, wie es funktioniert: Als die kommende documenta-Chefin Catherine David mit einem Pulk von Journalisten und Museumsleuten zu Besuch kommt, ist die sogenannte Peripherie ebenso eines der vielen Kunstzentren wie zwei Stunden später die Giardini, als der amerikanische Botschafter den autosalonartig gestylten Pavillon mit Videos von Bill Viola einweiht (die wieder einmal die Erfahrungsarmut im bürgerlichen Amerika verdoppeln – das Subjekt in all seinen Konventionen, verlangsamt oder nackt unter der Dusche).

Als hätte man den Begriff von der friedlichen Koexistenz selbst nach seinem Scheitern in den Codex sozialer Verbindlichkeiten herübergerettet, kann für „Transculture“ eine iranische Foto- Künstlerin wie in einer utopischen Community neben der Konzept- Gruppe „Technocrat“ aus Tokio bestehen, ohne daß der Gegensatz zwischen High-Tech-Spielerei und arabischer Poesie aufgelöst würde. Während die einen (als ironischen Verweis auf die im Labor zusammengebastelte Conditio Humana) das Genom-Projekt mit einer selbstorganisierten Samenbank konterkarieren, stellt Shirin Neshat die Rollenverteilung im Islam zur Disposition. Ihre „Women of Allah“-Selbstportraits greifen den Schleier an – und sind zugleich durch Schrift verhüllt. Immer wieder sieht man auf Schwarzweißfotos Neshats Augen, die reglos in die Kamera blicken; ihr Gesicht, der Körper, Hände und Füße sind wie mit Tätowierungen von Schriftzeichen überzogen, eine englische Übersetzung des Textes hängt bei: „Who has robbed me of my white horse? / Who has robbed me of my dreams and hopes?“ Stumm, nahezu kalt werden die schwärmerischen Gedichte aus dem Orient duldsam dem Bild eingeschrieben, und doch kehrt sich der romantische Gestus radikal um. Neshat erträgt nicht mehr nur den Text, der ihr auferlegt ist – sie hält zudem ein Gewehr in der Hand, dessen Lauf gegen den Betrachter gerichtet ist. Der Schador als Projektion, den Finger am Abzug: Das Schweigen im jahrhundertealten Diskurs der Männer ist das eine, Haltung und Handlung das andere. Scheherazade ist auch eins der Rrriot Girrls geworden.

Natürlich gibt es weiterhin Unterschiede im internationalen Kunstbetrieb, zumal weite Teile der offiziellen Länder-Pavillons mehr und mehr zum Joint-venture mit der Industrie neigen. Der deutsche Beitrag wäre ohne die finanzielle Unterstützung der Hugo Boss AG nicht realisierbar gewesen, wie der kommissarische Leiter Jean- Christophe Ammann nicht müde wird zu betonen. Katharina Fritsch hatte sich zwar im Vorfeld noch darüber gegrämt, das ihre Installation „Museum“ als Laufsteg für Models verunstaltet werden

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könne. Aber der Sponsor blieb leider dezent. Statt dessen darf das Publikum jetzt vor einem raumfüllenden Achteck den Formalismus aus schwarzen Klobürsten und abstrakten Gedanken bestaunen. Im Nebenraum wird es mit figurativem Kitsch von Martin Honert ins „Fliegende Klassenzimmer“, Erich Kästners Jugendbuch, zurückgeholt, dessen Hauptfiguren der Düsseldorfer Künstler im Polyester-Look eines Schneller- Wohnen-Ambientes dekoriert hat, um „nicht Darstellungen von Menschen, sondern Darstellungen von Figuren“ zu zeigen. Überhaupt scheint den Deutschen das Menschliche eher fremd. Die generierten Fahndungsfotos von Thomas Ruff haben mehr mit dem Gerhard Richterschen Grau in Grau und Warhols überzeichneten Pop-Stars zu tun, als daß sie irgend etwas über die Verfügbarkeit technischer Bilder besagen würden. Dazu paßt das eitle Interview, das Ruff mit Stephan Dillemuth geführt hat: „Also ich denke, wenn einer immer noch nicht bemerkt hat, daß alles, was er jetzt gelesen hat, Einbildung ist, dann ... – Das war einfach, wie machen wir jetzt weiter?“ Bleibt zu erwähnen, daß man sich vor dem Betreten der Räume die Schuhe abputzen muß, und Ammann höchstpersönlich abends den Staub kehrt.

So wie Deutschland nach Hans Haackes Angriff auf „Germania“ ausfegt und Ordnung macht, ist auch Österreich nur noch am Blick nach vorne interessiert. Peter Weibel hat sich neben der dekonstruktivistischen Architektengruppe Coop Himmel(b)lau Medienkünstler aus dem Internet eingeladen. Ein installierter Bildschirm von Richard Kriesche soll durch die regen Bewegungen im World Wide Web einen Stahlträger antreiben, der zum Höhepunkt der Kommunikation eine Pavillon- Wand durchstoßen wird. Bei solcherart Männerphantasien, denen das globale Netz nur als Phallus, Metapher und Ersatz-Objekt dient, kehren die Bilder zwar massenhaft wieder, aber von Mal zu Mal auch blasser. Constanze Ruhm und Peter Sandbichler jagen einen Menschenauflauf schlauchartig durch den virtuellen Raum, bei Ruth Schnell verbiegen sich die Leute interaktiv. Dort wo Weibel die neue Schnittstelle, nämlich zwischen Architektur und Medien, ansetzt, erzeugen die Künstler immer noch nichts als beliebig dahergepixelte Bilder, die dekorativ im Pavillon drapiert sind. Der versprochene Ereignisraum ist eine Mogelpackung, das allgegenwärtige Netz kaum mehr als ein Photoshop-Album. Die Einsicht, daß man dennoch mit Bildern umgehen kann, ohne in Mythen verfallen zu müssen, verdankt die Biennale vor allem den Schweizern Fischli/Weiss. In ihrem Pavillon herrscht das Easy Listening des Alltags. Auf über 75 Stunden Video-Mitschnitt haben die beiden mit stoischer Gelassenheit gefilmt, was ihnen vor die Kamera kam: Gletscher, Truppenübungen in den Bergen, die eigene, emsige Schnitzarbeit im Atelier, Sonnenaufgang über Zürich, Techno- Disco. Ein Tag dauert bei ihnen einen Tag, wenn etwas dazwischengeschnitten wird, auch länger. Insgesamt stehen zwölf Monitore mit verschiedenen Situationen bereit, aus deren Zusammenspiel sich so etwas wie eine Partitur der Lebensumstände ergibt. Nichts geht verloren. Dazu schreibt Boris Groys in einem – für die sonst eher verschwommen daherphilosophierte Biennale – wunderbar klaren Essay darüber, wie ausgerechnet die Langsamkeit der Schweizer im ohnehin mit Hochgeschwindigkeit flottierenden Informationszeitalter schon wieder einen Schritt vorne liegt, so wie der Igel vor dem Hasen. Die sanft gebremsten Bilder beschleunigen geradezu den Fluß der Dinge: In ihnen sind all die banalen Momente aufgehoben, die der Aufmerksamkeit sonst entgehen. Und das sind viele: „Statt das Unsichtbare sichtbar zu machen, wie die Aufgabe der Kunst traditionell verstanden worden war, machen Fischli und Weiss etwas durchaus Sichtbares – nämlich den schweizerischen Alltag – unsichtbar, weil in der Länge ihrer Videos verborgen. So wird das Banale geheimnisvoll zu der Zeit, in der das Geheimnisvolle banal geworden ist.“ Nicht die Bezwingung des Materials zählt, wie es Weibel fürs Netz vorbetet, sondern die Bereitschaft zum Umgang mit dem Leben. Man muß schon wie Fischli und Weiss sehr wachsam sein, um diese Spuren nicht mit Bildern zuzuschütten.

Bis 15. Oktober. Die Kataloge zu den Pavillons und der Sonderausstellung „Identity and Alterity“ kosten zusammen ca. 130 Mark. Die deutschen Beiträge sind in Einzel-Katalogen im Cantz-Verlag erschienen.

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