: Flußbett ohne Spree
■ Ab November wird die Spree zwischen Lehrter Bahnhof und Reichstag umgeleitet / Tunnel wird in offener Bauweise gegossen
Wer gelegentlich Zeit findet für eine Dampferfahrt auf der Spree, kennt diese Biegung des Flusses: Vom Schiff aus kann man auf der einen Seite den Reichstag sehen und auf der anderen einen trefflichen Blick in die Einfahrt des Humboldt-Hafens werfen, mit seinen alten Lagerhäusern und – an trüben Tagen – dem Flair einer Krimikulisse.
Mit der Ruhe hat es an dieser Stelle bald ein Ende. Unbeeindruckt von allen Argumenten der Gegner der geplanten Tunnelanlagen unter dem Tiergarten für Straße, Fern- und Regionalbahnen läuft die Planungsmaschinerie des Senats auf vollen Touren. Bereits im November sollen hier, im nördlichen Spreebogen, die Bauarbeiten für das Milliardending beginnen: Wenige Meter westlich der Hafeneinfahrt werden die Tunnelbauten zwischen dem südlich gelegenen Kronprinzenufer und dem nördlichen Friedrich-List-Ufer auf einer Breite von etwa 100 Metern den Fluß unterqueren.
Das bedarf einigen Planungsgeschickes, denn die Schiffahrt soll an dieser Stelle trotz der Bauarbeiten nahezu reibungslos funktionieren. Nun könnte man zu diesem Zweck zwar kurzerhand den Tunnel unter der Spree hindurch graben. Doch scheidet dieses „Unterfahren“ des Flusses in bergmännischer Bauweise aus, weil die Oberkante des Fernbahntunnels künftig nur einen Meter unterhalb der Spreesohle liegen wird. Das Risiko, daß die Spreebrühe während eines Schildvortriebes nach unten einbricht, wäre zu groß.
Also greifen die Ingenieure auf die Methoden konventionellen oberirdischen Straßenbaus zurück, die auf einen Fluß angewendet jedoch eher unkonventionell anmuten: Die Baugrube bleibt offen, die Spree wird umgeleitet und das gesamte Flußbett an dieser Stelle einige Meter nach Norden verlegt.
Dabei stört es einen echten Planer nicht, daß sich dort eine Straßenverkehrsverbindung in den Norden, nach Wedding, befindet – das Friedrich-List-Ufer wird einfach gesperrt, weggeplant und als Straßenland entwidmet.
Im ersten Bauabschnitt wird zunächst am nördlichen Ufer der Boden für das künftige Ersatzbett der Spree ausgehoben. Anschließend werden hinter den beiden noch bestehenden Ufern im Norden sowie im Süden Spundwände gezogen und bis zu 40 Meter tief in die Erde versenkt – die ersten Randbegrenzungen der künftigen Baugrube.
Anfang nächsten Januars erfolgt in der zweiten Phase die Spreeverlagerung selbst: Nördlich ihres neuen Bettes wird ebenfalls eine Spundwand als Begrenzung der Umleitung in den Boden getrieben und dann die Erde bis auf eine endgültige Tiefe von neun Metern ausgehoben. Anschließend werden die beiden noch vorhandenen Uferbefestigungen – östlich und westlich – abgebrochen, das neue Bett geflutet und damit ein Verkehrsweg für die künftige Umfahrung der Baugrube geschaffen.
Man hat jetzt eine Wasserfläche, in deren Mitte noch ein Damm steht: die nördliche Begrenzung der künftigen Baugrube und gleichzeitig die südliche der Umleitung. Die Verlagerung soll Ende Januar 1996 abgeschlossen sein. In dieser Phase werden die Spreekähne über das als Ersatz geschaffene zweite Bett der Spree mittels einer Ampelsteuerung im Einbahn-Verkehr geleitet. Neue Haltebuchten für die Schiffe spreeauf- und abwärts seien „nicht erforderlich“, betont der Projektleiter Wolfgang Müller von der federführenden „Projektgesellschaft für Verkehrsanlagen im zentralen Bereich“. Der Fluß sei an „dieser Stelle breit genug, so daß die Kähne gefahrlos aneinander vorbeifahren können“.
Nach diesen Vorarbeiten wird die Grube für die Tunnel geschaffen. Dazu müssen östlich und westlich des alten Bettes direkt in der Spree die künftigen Begrenzungen aufgeschüttet werden, um anschließend an diesen Stellen die seitlichen Spundwände der offenen Baugrube zu installieren. Man hat jetzt einen nach vier Seiten umschlossenen Kasten, gefüllt mit Spree- und Grundwasser.
Dieser Pool wird weiter ausgehoben, und anschließend legen in einer Tiefe von 22 Metern Spezialfirmen unter Wasser eine Betonsohle – die tiefste Schicht der Konstruktion, auf der später der Tunnel ruhen wird. Sie wird zum Schutz gegen einen etwaigen Auftrieb durch Grundwasser mit Stahlpflöcken verankert – schließlich will man den aus Bonn bekannten „Schürmann-Effekt“ tunlichst vermeiden.
Ist das Wasser aus der Baugrube herausgepumpt, kann im Trockenen – so jedenfalls lautet der Plan – auf der gesamten Breite der Rohbau des Tunnels beginnen. Sind die Bauwerke fertiggestellt, werden sie von einer drei Zentimeter starken Stahlplatte zum Schutz vor Beschädigungen durch Bagger, Schiffe oder Anker gedeckelt. Zuvor wurden schon wasserdichte Querschotts eingezogen, damit die Anlage nicht absäuft, wenn die beiden Spundwände im Norden und Süden für den anschließenden Weiterbau beseitigt werden. Die Tunneldecke selbst wird später rund einen Meter unter der Spreesohle liegen.
Mit dem Beginn der fünften und letzten Bauphase in diesem Bereich werden die Spundwände – also die östliche und westliche Begrenzung der Baugrube – gezogen und die Aufschüttungen beseitigt. Die Spree fließt, sofern der Zeitplan eingehalten wird, Ende 1997 wieder in ihrem alten Bett, während im Bereich der früheren Umleitung schon der nächste Tunnelabschnitt Richtung Norden und auf der anderen Uferseite die Arbeiten für die Weiterführung in Richtung Süden beginnen. Andreas Lohse
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen