: Christo, Jeanne-Claude und Georg Gleistein
■ Seile aus Bremen halten zusammen, was ab heute den Berliner Reichstag verhüllt
Aller Anfang ist körniges Granulat. Bei 240 Grad Hitze entsteht daraus ein Zwirn, der gebündelt wird und immer dicker. Am Ende stehen 14.000 Meter „umweltfreundliches und recyclefähiges“ Polypropylen-Seil bereit, 32 Millimeter dick, königsblau eingefärbt und zusätzlich flammhemmend ausgerüstet. Genau so, wie Christo – und Jeanne-Claude natürlich – es sich gewünscht haben. Denn die „technischen Textilien“ sollen, wenn heute die Hüllen vom stahlverstärkten Dach über den Berliner Reichstag fallen, dafür sorgen, die 100.000 Quadratmeter aluminiumbeschichtetes Polypropylengewebe zu bändigen. Anteil daran, daß Christos Reichstagsverhüllung, vorbereitet seit 1971, reibungslos funktioniert, hat auch ein alteingesessenes Bremer Unternehmen. Georg Gleistein Tauwerk, ansässig in Bremen-Blumenthal, fertigt mit 100 Mitarbeitern seit 1824 Taue aller Art und Stärke: von schmalen neonfarbenen für Drachenschnüre über mittlere, etwa für Yacht-Relinge bis hin zu armdicken, mehrfach verdrehten Tauen, die Ozeandampfer im Hafen am Abdriften hindern.
Mitte März bekam Gleistein den Auftrag. „Wir konnten uns gegen 10 Konkurrenten durchsetzen, die, teilweise mit Importtauen, günstiger produziert hätten als wir“, sagt Rudolf Kirst, Prokurist bei Gleistein. Doch Wolfgang Volz, Projektmanager der eigens ins Leben gerufenen „Wrapped Reichstag GmbH“, gab trotzdem dem Bremer Traditionsunternehmen den Zuschlag. „Wir haben Volz unser Tauwerklabor zur Qualitätssicherung gezeigt, und alles, was wir an besonderen Seil-Konfigurationen produzieren, können wir im Hause machen“, so Roland Kirst, der selbst erst durch Presseberichte von Christos jüngstem Projekt erfahren und Kontakt mit ihm aufgenommen hat.
„Sehr charmant, sehr fair“, so schildert er Christo und seine Frau, die er in Berlin einmal getroffen hat. Und zitiert des Künstlers Credo: „Erst kommen meine Leute, dann ich!“ Ein Bild, das nun gar nicht demjenigen entspricht, das oft genug von ihm verbreitet wird: das eines herablassenden, sich im Ruhm sonnenden Egomanen. Doch: „Für die Vermarktung kann er nichts“, nimmt Kirst das Unternehmen Christo in Schutz, das allein 300 Mitarbeiter beschäftigt. Gegen den Kommerz wird Christo aber sicherlich nichts einzuwenden haben; schließlich finanziert er seine Projekte davon!
Nur zwei Wochen reine Produktionszeit brauchten die Gleistein-Mitarbeiter zur Seilherstellung. Das klingt nach nicht viel. Zu diesem Zeitpunkt waren die Taue aber noch nicht geschnitten, gefärbt und entsprechend gespleißt, so daß aus den Seilen ein Seilnetz mit 13.000 Kilogramm Zugkraft entsteht. Aus den 14 Kilometern Tau wurden schließlich 4000 Einzelteile, minutiös gepackt in 36 Paletten. „Just in time“ und keinen Tag zu früh holte der Sattelschlepper die Container ab und plazierte sie auf dem Reichstagsgelände punktgenau: am vergangenen Montag, dem 13. Juni. Dem gemeinsamen 60. Geburtstag von Christo und Jeanne-Claude. 36 Container als praktische Geschenkidee? „Dann hätten wir ja umsonst gearbeitet“, lacht Roland Kirst. Und falls die Seile zu kurz sind? „Dann greift unser Katastropheneinsatzplan: Die Maschinen laufen Tag und Nacht, notfalls sitzen noch Männer auf dem LKW und spleißen auf der Fahrt nach Berlin.“
Läuft aber alles nach Plan, macht sich die Gleistein-Belegschaft demnächst freiwillig zu einem kleinen Ausflug nach Berlin auf: „Normalerweise bekommen unsere Leute ja nie zu sehen, was mit ihren Produkten passiert“, kommentiert Klaus Walther, einer der beiden Geschäftsführer der Firma, die Stimmung unter seinen Mitarbeitern. „Jetzt haben sie mal Gelegenheit dazu. Und seit verschiedene TV-Teams uns bei der Arbeit über die Schulter geschaut haben, sind die Arbeiter immer neugieriger auf Christos Projekt geworden.“
Stolz ist man zwar, den Auftrag für Christo ergattert zu haben, doch zu Kopf gestiegen ist das den Verantwortlichen bei Gleistein keineswegs. „Es war ein ganz normaler Auftrag; Christos Forderungen waren immer fair.“ Und wenig Aufhebens macht man auch bei anderen prestigeträchtigen Aufträgen. Ein schon leicht verblichenes Poster eines längst vergangenen „Admiral's Cup“ etwa ziert die Bürowand und läßt vermuten, daß schon so mancher Segler der legendären Regatta mit Gleistein-Tauen beliefert wurde. So ist es auch. Beliefert, ohne daß allerdings das Firmen-Logo am Bug prangt: „Kein Sponsoring von vermeintlichen Favoriten“, so Walther zur Firmenphilosophie, „der „kleine Mann“ gehört genau so zu unseren Kunden.“ Bei Gleistein bleibt man auf dem Teppich, macht noch ein wenig Umsatz mit Maschinenbau nebenher und harrt der begehrten ISO-Lizenz. Denn diese Errungenschaft der Europäischen Union zeichnet – in allen möglichen Branchen – Betriebe aus, die hohe Qualitätsanforderungen garantieren. Mögliche Kunden halten sich so schwarze Schafe vom Leibe; ISO-lizenzierte Firmen sind schließlich keine dubiosen Briefkastenfirmen. Die Gutachter haben schon wohlwollend genickt, nur die Bescheinigung fehlt noch.
Alexander Musik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen