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Wahrscheinlich liest wieder kein Schwein

Das Autorenproletariat. Über den Leserbriefschreiber, einen unterschätzten destruktiven Charakter  ■ Von Michael Rutschky

Lesen und Schreiben sind als Sozialaktivitäten strikt voneinander getrennt. Während Sprechen und Hören – abgesehen vom Radio – sich aufeinander beziehen und aneinander kontrollieren können in Face-to-face-Situationen, zeichnet es das Lesen aus, daß der Schreiber abwesend sein muß und umgekehrt. So hat der Schreiber den Leser, der Leser den Schreiber nicht unter Kontrolle.

So beklagt man als Schreiber gern, daß man einsam sei – als wäre nicht eben dies eine der stärksten Freuden: daß dich kein anderer unterbrechen und dir reinreden darf. Zeichnet sich die Einsamkeit des Schreibenden weiter oben in der Hierarchie der literarischen Gattungen noch durch besonderes Prestige aus – das Schweigen des Lesers von Lyrik bezeugt seine Ehrfurcht –, so wird, wenn wir weiter nach unten gehen, zu den journalistischen Dichtarten, das Schweigen des Lesers zum Problem. Findet, fragt sich der Schreiber sowie der große Apparat der Zeitung, die ihn veröffentlicht, überhaupt Kommunikation statt? Das gedruckte Wort, Tag für Tag, Woche für Woche ausgesandt, trifft es auf einen Empfänger?

So betritt der Leserbrief die Bühne, weil er es ist, der die Frage zu beantworten scheint. Das geschriebene, dann gedruckte Wort berührte einen Leser so tiefgreifend, daß er antworten mußte. Bravo. Damit ist die Zeitung als Medium gerechtfertigt; siehe, es fand Kommunikation statt. Eigene Leserbriefredaktionen stellen eigene Leserbriefseiten zusammen (bestellen manchmal von sich aus Leserbriefe); der Schreiber, der viele Leserbriefe mit seinen Artikeln anlockt, gewinnt an Prestige in der Redaktion, unabhängig davon, ob er Zustimmung erntet oder schärfsten Widerspruch.

Aus der Perspektive des Schreibers gesagt: Leserbriefe entgegenzunehmen ohne Klage lernt man nur langsam. Vor allem deshalb können sie immer wieder schockieren, weil sie dem Schreiber, wie sorgfältig er auch gearbeitet haben mag, unmißverständlich mitteilen, daß nicht gelesen worden ist, was er geschrieben hat. Leserbriefe belehren den Schreiber aufs gründlichste, daß Kommunikation keinesfalls als Übermittlung seiner wohlerwogenen Botschaft an den wohlgesonnenen Leser vorgestellt werden darf.

Das beginnt damit, daß viele Leserbriefe sich gar nicht an den Schreiber wenden, sondern an den Redakteur, in dessen Verantwortung die Seite fällt. Weil diese Verantwortlichkeit oft unklar bleibt oder weil der Leserbriefschreiber unverwandt zu den höchsten Tieren strebt, richtet er sich auch gern an den Chefredakteur oder gar den Herausgeber. Worin er, wenn die Leserbriefseite „Letters to the Editor“ oder „Briefe an die Herausgeber“ überschrieben ist, natürlich bestärkt wird.

Der Leserbrief geht so gewissermaßen an den Vorgesetzten des Schreibers; jener soll diesem im Namen des Leserbriefschreibers eine Rüge erteilen. So heißt es: „Die neue Prüderie“, über die ich mir ein paar Gedanken gemacht hatte anläßlich des Plakatierens von Aktfotos, „ist sicherlich ein aktuelles Phänomen und stammt als Bewegung vor allem aus den USA“, insofern tat der Redakteur recht, mich darüber schreiben zu lassen. „Wenn man über dieses Phänomen sprechen will, müßte man etwas globaler ansetzen und mehrere Faktoren einbeziehen, sich aber nicht so oberflächlich äußern wir Ihr Schreiberling.“ Setzen, Fünf!

Dies sind unter Leserbriefschreibern beliebte Formen der Dequalifizierung: „Oberflächlich“, auch „banal“, Formeln, die in der professionellen Kunstkritik ganz aus der Mode sind, und hier könnte die weitergehende Untersuchung der Rhetorik der Leserbriefschreiber zu interessanten Funden führen – Leserbriefe als Volkskunst betrachtet, die ja auch aus abgesunkenem Hochkulturgut gefertigt wird.

Wie gesagt, der Leserbriefschreiber beschwert sich beim Redakteur über den Schreiber. Der Redakteur hat als Vorgesetzter des Schreibers versagt. Dies war, heißt es beispielsweise, „ein Artikel, dem ich beim besten Willen nichts anderes entnehmen kann als das peinliche Fehlen einer Redaktion, die den Artikel hätte verhindern müssen“. Es „erübrigt sich jede Auseinandersetzung mit den Inhalten [dieses] intellektuell aufgeblasenen Schwachsinns. Die einzige Frage, die regelmäßig bleibt: Was soll das Ganze?“ Das Ganze soll weg, wünscht der Leserbriefschreiber – er möchte es wegschieben: durch seinen Leserbrief. Oder indem er die unwürdigen Motive des Schreibers entlarvt, womöglich die ökonomischen: „Wo es inhaltlich nichts zu sagen gibt, heißt es – für die armen Profischreiberlinge –, auffallen um jeden Preis.“ Zuweilen ist die Entfernung des Schreibers ganz wörtlich zu verstehen: „Verehrter Polack Rutschky! Die Zeit ist bald da, wo wir Sie in die Heimat Ihrer Vorfahren, in die polnischen Ostprovinzen befördern werden. Dort können Sie ihren Artgenossen das Faulenzen abgewöhnen!“

Ich persönlich bekomme solche klaren und anomymen Drohbriefe nur selten – es handelte sich übrigens um einen Radiohörer-, keinen Leserbrief –, aber so weit entfernt vom Typus Beschwerde beim Vorgesetzten ist er doch nicht. Zwar wollen Frau Burger, Dr. Brickwedde und Herr Höhn mich nicht aus Deutschland vertreiben. Aber eine empfindliche Einschränkung meiner Erwerbsmöglichkeiten – keine Aufträge mehr seitens dieser Zeitung – würden sie mir wünschen. Wenn nicht einen Berufswechsel: Wer inhaltlich nichts zu sagen hat, bloß Schwachsinn intellektuell aufbläst, banal und oberflächlich argumentiert statt global, unter Einbeziehung mehrerer Faktoren, der sollte doch besser das Schreiben lassen und es mal mit richtiger Arbeit versuchen, nicht wahr?

Es fällt also auf, wie haßerfüllt Leserbriefschreiber sein können, wenn sie nicht nur diesen oder jenen Punkt beim Schreiber korrigieren, sondern ihn aus seinem Beruf, wenn nicht dem Land vertreiben wollen. Das Geschriebene muß beim Lesen ein empfindliches narzißtisches Gleichgewicht gestört haben, daß sie so prompt mit Vernichtungswünschen reagieren – Vernichtungswünsche, die unter dem Gesichtspunkt der seelischen Hygiene ja ganz leicht zu erfüllen wären: Sie bräuchten bloß auf das Zeitungslesen zu verzichten.

Andererseits müssen diese Anfälle narzißtischer Wut – und deshalb kommt keiner auf Kommunikationsverzicht – große Befriedigung schenken. „Das bringt das Blut so schön in Wallung“, wie meine Schwiegermutter sagt. Das Geschriebene erweist sich als unliebsamer Eindringling in den seelischen Innenraum des Lesenden, und er darf im Dienste seines Seelenfriedens sofort zu Kriegsmaßnahmen übergehen. Der Ort, an dem mein Erscheinen eigentlich durch den Redakteur hätte unterbunden werden müssen, ist gar nicht die Zeitung (oder das Radioprogramm), es ist der Seeleninnenraum des Lesers.

Wie gesagt, als Sozialaktivitäten sind Lesen und Schreiben strikt voneinander getrennt. Aber das scheint dem Leser eine weit gründlichere Betroffenheit durch Geschriebenes zu ermöglichen als Gesprochenes in Face-to-face-Situationen. Geschriebenes dringt tiefer ein, gerade weil Zeitungsleser und Zeitungsschreiber einander unbekannt sind. Die seltsame Intimität, in die er, gelesen, gerät, macht dem Schreiber mancher Leserbriefschreiber dadurch deutlich, daß er seinen Namen manipuliert. So kürzte eine wuterfüllte Dame, die unerhört fand, was ich über den Philosophen Georg Simmel zu schreiben die Unverschämtheit besessen hatte, in ihrem Leserbrief an die Leserbriefredaktion meinen Namen konsequent mit „M. Rutsch.“ ab. Die Sache mit dem „Polack Rutschky“ hatten wir schon. Kürzlich wurde ich in einer sehr umfangreichen Zuschrift von deren Autor, der sich gleich am Anfang als 22jähriger auswies, immer wieder als „der liebe Michael“ tituliert, verletzend und zärtlich zugleich.

Nicht erst bei Sonetten, schon bei Zeitungsartikeln findet der Lesende Geschriebenes also in intimster Nähe vor. Indem dann er schreibt – einen Leserbrief –, versucht der Leserbriefschreiber das Gelesene zu vertreiben, als intellektuell aufgeblasenen Schwachsinn, oberflächlich und banal, inhaltslos, der Veröffentlichung unwert. Immer wieder gibt der Leserbriefschreiber sich als Gekränkter, Erniedrigter und Beleidigter zu erkennen, der so geduldig die Zumutungen der Massenkommunikation ertragen hat die ganz Zeit – sie jetzt aber um keinen Preis länger ertragen will.

„Sehr geehrte Leserbriefredaktion“, ist das beleidigende Schreiben höflich eingeleitet, „Ich möchte Sie bitten, folgenden Leserbrief im Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung zu prüfen.“ Das zentrale, den Leserbriefschreiber wahrhaft motivierende Motiv ist nämlich, daß er bloß der Leser ist statt des Schreibers. Daher die grundsätzliche Kränkung, Erniedrigung und Beleidigung. Daher die dringende Notwendigkeit, den ursprünglichen Schreiber zu kränken als geltungssüchtigen Schwätzer, oberflächlich und banal, intellektuell aufgeblasen und so fort.

Die konstituierende Geste des Leserbriefschreibers ist das Beiseiteräumen: des ursprünglich gelesenen Textes. Denn an dessen Stelle will er sich und seinen Leserbrief setzen.

So bieten uns die Leserbriefseiten der Zeitungen und Zeitschriften kein Bild einläßlicher, zuweilen auch heftiger Diskussion strittiger Geltungsansprüche dieses oder jenes Arguments. Vielmehr das Bild eines ebenso mörderischen wie imaginären Kampfes um Kommunikationschancen. Imaginär vor allem deshalb, weil ja augenscheinlich keiner mehr lesen will: Alle wollen bloß schreiben.

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