: „Eine moralische Katastrophe für Rußland“
■ Die Rede des Ex-Menschenrechtsbeauftragten Jelzins und Vermittlers im Tschetsche- nienkonflikt, Sergei Kowaljow, auf dem Ev. Kirchentag 1995 in Hamburg (in Auszügen)
„Liebe Freunde!
[...] Heute tobt auf dem Territorium der Russischen Föderation ein grausamer und blutiger Krieg – der grausamste und blutigste, den Rußland nach 1945 geführt hat. In diesem Krieg haben auf Befehl der russischen Regierung Zehntausende russischer Bürger ihr Leben verloren, Hunderttausende von Flüchtlingen sind Leiden und Entbehrungen ausgesetzt.
Im Verlauf der Kriegshandlungen haben die Truppen der Föderation eine Halbmillionenstadt und einige kleinere Städte dem Erdboden gleichgemacht. Die tschetschenischen Dörfer sind Artilleriebeschuß und Luftangriffen ausgesetzt. In einige Dörfer dringen nach dem Abzug der Aufständischen maskierte Banditen ein – keine Gangster, sondern Soldaten – und erschießen die Bewohner. Diejenigen, die sie nicht an Ort und Stelle töten, führen sie ab; andere Maskierte verlangen von ihnen Geständnisse, daß sie den Partisanen angehören. Die Verhafteten werden geschlagen, manchmal gefoltert.
[...] Die Ereignisse in Tschetschenien werden von hemmungslosen Lügen begleitet; die russische Regierung behauptet hartnäckig, daß es überhaupt keinen Krieg gibt – es handele sich um die ,Entwaffnung illegal bewaffneter Formationen‘. Dieser Krieg ist beim Volk äußerst unpopulär, wird vom Parlament verurteilt und ruft in der Öffentlichkeit scharfe Proteste hervor. Dies alles wird im Kreml einfach ignoriert.
[...] Alte tschetschenische Frauen, deren Häuser zerstört, deren Verwandte getötet wurden, Frauen, in deren Wortschatz weder ,Unabhängigkeit‘ noch ,Legitimität‘ oder ,verfassungsgemäß‘ vorkommen, fragten mich immer wieder: ,Was ist los mit Rußland? Warum tötet ihr uns wieder?‘ Was sollte ich diesen alten Frauen antworten? Daß nicht ich es bin, der tötet? Soldaten und Offiziere der Föderationsarmee, die an den ersten Tagen des neuen Jahres in Grosny auf dem Bahnhof von tschetschenischen Trupps umzingelt waren, schrien mir zu: ,Ihr Politiker, ihr habt uns hierher gebracht! Warum tut ihr nichts, um uns hier herauszuholen?‘ Und ich, Abgeordneter der Staatsduma und Föderationsbevollmächtigter für Menschenrechte, konnte doch diesen 18jährigen Jungen nicht sagen: ,Das bin nicht ich, ich habe nichts damit zu tun, das hat sich alles der Präsident ausgedacht, und er hört nicht auf mich!‘ Schließlich habe ich diesen Präsidenten vier Jahre lang unterstützt, und wenn jetzt auf seinen Befehl in meinem Land Massenmorde geschehen – wer ist schuld daran, wenn nicht ich?
[...] Ich bin nicht nur verpflichtet, zum Schutz von Recht und Freiheit zu handeln, sondern auch gegen das tschetschenische Abenteuer aufzubegehren. Und ich bin auch verpflichtet zu verstehen, wie und warum so etwas in meinem Land geschehen konnte, einem Land, an dessen gesellschaftlicher Erneuerung ich aktiv teilgenommen habe. [...] Ich glaube nicht, daß uns pathologische Bösewichter und Mörder regieren. Ich glaube nicht, daß es für Präsident Jelzin ein Vergnügen ist, die Kriegsberichte zu lesen. Ich glaube nicht einmal, daß es für Verteidigungsminister Gratschow (der mich einmal öffentlich ,Feind der Nation‘ genannt hat) ein Vergnügen ist, freche und absurde Lügen über diesen Krieg zu verbreiten. [...] Ich glaube, daß alle diese Leute sich gezwungen sehen, im Namen einer übergeordneten Staatsräson zu Lüge, Grausamkeit und Gesetzlosigkeit Zuflucht zu nehmen. [...]
Leider hat die russische Gesellschaft bisher nicht die Kraft gehabt, die neuen Machthaber zu zwingen, sich ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Die Institutionen, die im Westen die sogenannte bürgerliche Gesellschaft bilden – die politischen Parteien, die unabhängigen Gewerkschaften, die Presse, die gesellschaftlichen Organisationen – befinden sich in Rußland in einem rudimentären Zustand. Zu lange war das Volk nur eine atomisierte Masse einzelner Individuen, deren sämtliche Verbindungen untereinander von den allgegenwärtigen Machthabern kontrolliert wurden. Der Bedarf an einer bürgerlichen Gesellschaft – das ist vor allem der Bedarf an bürgerlicher Verantwortung.
Zynische Moral des Staatsinteresses
[...] Aber bei uns hat sich in der öffentlichen Psychologie ein ganz anderes Stereotyp herausgebildet – das des Staates als Vormund, der das seiner Obhut anvertraute Volk beschützt. [...] Im Grunde genommen ist diese Psychologie das Resultat einer Idee von der Ungleichheit der Rechte, die sich tief in das sowjetische öffentliche Bewußtsein eingegraben hat, einer Idee von der Einteilung der Gesellschaft in Führende und Geführte.
Da haben Sie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die tschetschenische Tragödie. Nachdem die neuen Machthaber sich faktisch von den demokratischen Werten losgesagt hatten, sich von der zynischen Moral des ,pragmatischen Staatsinteresses‘ leiten ließen, mußten sie zwangsläufig versuchen, dem Volk und der Welt ihre Stärke und die Richtigkeit ihrer Wahl zu demonstrieren. Was konnte, so schien es, besser der Demonstration ihrer Stärke dienen als die Unterdrückung separatistischer Tendenzen auf einem winzigen Flecken des Territoriums nahe der Südgrenze des Landes?
Drei Jahre lang haben Rußlands Machthaber gegen die eigene Schwäche angekämpft – die Überreste demokratischer Verirrungen –, haben sich losgerissen aus der Gefangenschaft des ,romantischen Moralisierens‘, wie sich vor kurzem unser Außenminister ausdrückte. Nun sind sie endlich frei. Daß es keinerlei Versuche gab, das Problem auf friedlichem Wege zu lösen, sollte noch einmal die Entschiedenheit der Machthaber unterstreichen und ihren Bruch mit dem ,romantischen Moralisieren‘.
Das tschetschenische Abenteuer versetzte die Regierung in einen Zustand völliger Verwirrung. Gerade an den Januartagen, als das Scheitern des Blitzkrieges in Tschetschenien sich abzeichnete, sagte mir der ehemalige ,romantische Moralisierer‘, heute Pragmatiker und Realist, der Außenminister Rußlands Kosyrew: ,Natürlich haben Sie recht, Sergei Adamowitsch, in Tschetschenien sind wir ,reingerasselt‘. Aber Sie verstehen doch, daß wir darüber nicht laut sprechen können!‘
Nun ja, wenn man nicht laut die Wahrheit sagen darf, dann muß man also lügen. Und da in Rußland trotz allem unabhängige Massenmedien und gesellschaftliche Organisationen existieren und es nicht gelingt, ihnen das Maul zu stopfen, muß man auch sie belügen. [...] Und wenn die Lügen nicht funktionieren, muß man die Bevölkerung zwingen, die Politik des staatlichen Zynismus und der Amoralität zu akzeptieren, muß die Menschen zwingen zu glauben, daß die Politik immer eine schmutzige Sache ist, daß das Ziel – die Größe Rußlands – die Mittel rechtfertigt, daß die Verfassung und die Menschenrechte nichts weiter sind als Dekoration, die man jederzeit wegwerfen kann, wenn die Staatsinteressen das verlangen. Sollte diese Politik Erfolg haben, dann wird das zur moralischen Katastrophe für Rußland. Wenn die Ideologen des ,Pragmatismus‘ die Geschichte besser kennten, dann verstünden sie, daß langfristig gesehen ohnehin die Politik siegt, die auf feste sittliche Prinzipien gegründet ist, die Politik, die den Menschen in den Vordergrund stellt, seine Freiheit und Würde, seine Rechte. [..]“
Kowaljow, der in den vergangenen Monaten immer wieder als Vermittler nach Grosny gereist war, hat die obige Rede vor dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg letztlich nicht gehalten, weil er kurzfristig zu Vermittlungsbemühungen in der Geiselaffäre abreisen mußte.
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