■ Die "Wissenschaftler für ein verfassungsgemäßes Transplantationsgesetz" zur Zulässigkeit der Organentnahme bei Hirntoten
: Tot oder nicht tot, das ist hier die Frage

1. Zur Rechtfertigung der Hirntod-Konzeption wird behauptet, das „eigentlich“ Menschliche, die menschliche „Seele“ oder der „Geist“ des Menschen hätten ihren alleinigen Ort im Gehirn. Diese Reduktion menschlichen Lebens auf Leistungen des menschlichen Gehirns ist anthropologisch fragwürdig.

Wenn nach dem Ausfall des Gehirns keine Bewußtseinsäußerungen mehr beobachtet werden können, kann daraus noch nicht auf das Ende der Existenz eines Menschen geschlossen werden. Ob und was ein (komatöser) Mensch empfindet, ist objektiv nicht zu beantworten, denn die Frage betrifft sein subjektives Erleben. So können wir zum Beispiel normalerweise bestimmte, sinnlich erfaßbare Zustände des Körpers eines Menschen als Zeichen für das subjektive Empfinden von „Schmerz“ deuten. Der Hirntod konfrontiert uns aber mit einem Grenzfall. Die Beantwortung der Frage, ob die Schmerzreflexe von hirntoten Patienten noch von irgendeiner Form subjektiven Empfindens begleitet werden oder nicht, entzieht sich im letzten dem Zugriff objektiv beschreibender Naturwissenschaften. Es ist fragwürdig, die Grenzen des wissenschaftlich Beschreibbaren ohne weiteres mit den Grenzen der Wirklichkeit in eins zu setzen.

Eine grundsätzliche Unterscheidung des Geisteszustands hirntoter Menschen von demjenigen anderer tief komatöser (zum Beispiel anenzephaler oder apallischer) Patienten läßt sich schwerlich begründen. Die Unsicherheit, die hinsichtlich solcher Komapatienten geltend gemacht werden kann, besteht daher im Prinzip auch für hirntote Komapatienten. Wir schulden einem Menschen auch dann Achtung, wenn wir über seine „innersten Empfindungen“ nichts wissen. Dies sollte in besonderem Maße auch bei der Sterbebegleitung von Komapatienten berücksichtigt werden.

2. Manche Stellungnahmen verteidigen den Hirntod daher biologisch: „Der Tod eines Menschen ist – wie der Tod eines jeden(!) Lebewesens – sein Ende als Organismus in seiner funktionellen Einheit, nicht erst der Tod aller Teile des Körpers.“ Dieses Verständnis von Leben orientiert sich – zu Recht! – an der bloßen Existenz des biologischen Organismus als einem Ganzen, im Gegensatz zum bloßen Weiterleben einzelner Organe und unabhängig von der Fähigkeit zu „geistigen“ Leistungen. Falsch ist es jedoch, wenn weiter behauptet wird, die Existenz des Organismus als eines integrativen Ganzen ende dort, wo der eigenständige Beitrag des Gehirns – genauer: des vegetativen Hirnstamms – dazu entfalle.

Nichts berechtigt dazu, dem intensivmedizinischen Ersatz lebensnotwendiger (vegetativer) Funktionen des Organs „Gehirn“ (zum Beispiel Atemantrieb, Hormonsteuerung) eine grundsätzlich andere Bedeutung beizumessen als dem Ersatz vegetativer Funktionen anderer Organe (zum Beispiel Herzschrittmacher, Hormonsteuerung, Stoffwechselsteuerung). Die Vorstellung von einem „Zentralorgan Gehirn“, das auf der einen Seite für „das Bewußtsein“, auf der anderen Seite für die Aufrechterhaltung der biologischen Lebensfunktionen des Organismus unverzichtbar sein soll, mag einem Menschenbild entgegenkommen, das das Menschsein des Menschen an den Leistungen seines „Kopfes“ mißt. Aus Sicht der modernen Biologie kann jedoch nicht begründet werden, warum ein bestimmtes der lebenswichtigen Organe als für die Funktion des Organismus unersetzliches „Zentralorgan“ gelten soll. Das Gehirn ist mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen eines Organismus im Prinzip ersetzbar.

3. (...)

4. Eine spezifisch medizinische Begründung des Hirntodkriteriums gibt es nicht, da die Bewertung des medizinischen Zustands „Hirntod“ als Tod des Menschen nicht in die spezifische Kompetenz der Medizin fällt. Zwei Aussagen sind aber immer wieder zu hören: erstens würden die Lebensfunktionen eines hirntoten Menschen „nur künstlich“ aufrechterhalten, und zweitens sei die Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod des Menschen unverzichtbar, da man andernfalls die apparative Beatmung nicht abbrechen dürfe. Diese Behauptungen sind irreführend beziehungsweise unrichtig.

a) Ob eine Organfunktion „natürlich“, also vom Körper selbst ausgeübt oder aber intensivmedizinisch unterstützt beziehungsweise durch künstliche „Prothesen“ ersetzt wird, spielt hinsichtlich der Beurteilung eines Menschen als lebend oder tot keine Rolle. Vielmehr sind „künstlicher“ Ersatz und Unterstützung von Blutdruck, Atmung, Entgiftung, Ausscheidung, Herzschrittmacher usw. der Alltag, gleichsam die Daseinsberechtigung einer Intensivstation. Solange durch solche Prothesen gewährleistet bleibt, daß der Organismus als eine selbständige Einheit erhalten bleibt, ist dies mit dem Leben eines Menschen vereinbar – das gilt für hirntote Patienten ebenso wie für andere schwerstkranke Patienten.

b) Zwar ist der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen mit den derzeit etablierten Methoden nicht sicher diagnostizierbar. Die Feststellung des Hirntods gemäß geltender Kriterien erlaubt jedoch die eindeutige Prognose, daß der oder die Betreffende nie wieder in einen Wachzustand zurückkehren wird und nur mit intensivmedizinischen Mitteln am Leben erhalten werden kann. Eine Weiterbehandlung in diesem Zustand dient nicht dem Wohle des Patienten; sie stellt vielmehr einen schweren Eingriff in seinen Sterbeprozeß dar. Deshalb ist es rechtlich nicht nur erlaubt, sondern sogar grundsätzlich geboten, die künstliche Beatmung hirntoter Patienten abzustellen.

5. (...)

6. Das Recht, vor allem das Strafrecht, hat das Hirntodkriterium in der Vergangenheit ohne eine eigenständige Überprüfung von der Medizin übernommen. Auf dieses Defizit ist schon früh hingewiesen worden, ohne daß die „herrschende Meinung“, die den Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichsetzt, den Einwänden Rechnung geträgen hätte. Offenbar unter dem Eindruck der wachsenden Hirntodkritik finden sich jedoch auch unter Straf- und Medizinrechtlern in jüngster Zeit eigenständige und Distanz suchende Beurteilungen der Hirntodkonzeption. Das Verfassungsrecht hat die Anerkennung des Hirntodkriteriums in der Vergangenheit unbesehen aus dem Strafrecht übernommen. Eine verfassungsrechtlich eigenständige Überprüfung der anthropologischen Grundannahmen des Hirntodkriteriums ergibt jedoch, daß es grundrechtsdogmatisch irrig ist, „menschliches Leben“ im Sinne des Art.2 Abs.2 S.1 Grundgesetz vom Nachweis der kognitiven („geistigen“) Leistungsfähigkeit des Menschen abhängig zu machen. Menschliches Leben im Sinne des Art.2 Abs.2 S.1 Grundgesetz meint das Lebendigsein des Menschen: „Wann ein ,Lebendigsein‘ vorliegt, richtet sich allein nach naturwissenschaftlichen (biologisch-physiologischen) Gegebenheiten am Körper des Menschen.“ Angesichts des Organismusbegriffs der modernen Biologie und im Lichte der vom Bundesverfassungsgericht betonten Notwendigkeit, den Lebensschutz in Grenzfällen extensiv zu garantieren („in dubio pro vita“), muß man einen hirntoten Menschen als lebend qualifizieren. Der hirntote Mensch wird daher durch das Lebensgrundrecht vor ungerechtfertigten Eingriffen in seine letzte Lebensphase, das Sterben, geschützt.

7. Obgleich der hirntote Mensch lebt, bleibt die Entnahme lebenswichtiger Organe zu Transplantationszwecken ethisch und verfassungsrechtlich möglich. Im Grundsatz geboten ist danach eine enge Zustimmungslösung, das heißt der hirntote, sterbende Mensch muß in gesunden Zeiten für den Fall, daß bei ihm der irreversible Ausfall aller meßbaren Hirnfunktionen festgestellt wird, die Entnahme von Organen verfügt haben.

Dies erfordert keine verfassungsrechtlich bedenkliche Ausnahme vom Tötungsverbot. Die Einwilligung in eine Organentnahme nach dem Eintritt des Hirntods legitimiert sich durch die Möglichkeit, das Leben eines potentiellen Organempfängers zu retten. Die Einwilligung des Spenders allein ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Organentnahme. Ein weiteres kommt hinzu: Der Zustand des Hirntods erlaubt einen Behandlungsabbruch, da ein sinnvolles Therapieziel nicht mehr gegeben ist. Deshalb gilt, daß bei einem hirntoten Menschen die Beatmung grundsätzlich nicht nur abgestellt werden darf, sondern abgestellt werden muß. Eine Behandlung, die nur das bloße Überleben zum Ziel hätte, während das Patientenwohl damit in keiner Weise mehr gefördert werden kann, ist in der Regel nicht zu rechtfertigen. Der Abbruch der intensivmedizinischen Unterstützung beim hirntoten Patienten zieht aber den Herz- Kreislauf-Stillstand und damit den Eintritt des Todes unmittelbar nach sich. Auf diesem Hintergrund kann die Organspendebereitschaft nicht mit einem Euthanasieverlangen in Verbindung gebracht werden, geschweige denn mit einem Tötungsverlangen im Sinne der „aktiven Euthanasie“. Denn durch die mit einem Organspendeausweis erklärte Bereitschaft, in der letzten Sterbephase seine Organe zur Transplantation zur Verfügung zu stellen, willigt der Spender nicht in eine Lebensverkürzung, sondern in die Verlängerung seines Sterbens um einige Stunden oder Tage ein, nämlich bis die Voraussetzungen für eine Organentnahme geschaffen sind.

Mit der Organentnahme zur Lebensrettung eines anderen findet die Sterbeverlängerung ihr Ende. Die Einwilligung in eine solche Sterbeverlängerung stellt demnach einen selbstgewählten Verzicht des hirntoten Menschen auf die Integrität seines Sterbens dar. Die Bereitschaft, einem Organempfänger durch die Einwilligung in eine Organentnahme nach eingetretenem Hirntod zu helfen, kann deshalb auch nicht zum Vorwand für ein Euthanasieverlangen werden: Wer zur Organspende bereit ist, strebt keine Erleichterung seines Sterbens an, sondern er nimmt um der Lebensrettung eines anderen willen eine Verlängerung seines Sterbens in Kauf. Eine gesetzliche Regelung der Transplantation, die den Hirntod nicht als Todes-, sondern als Entnahmekriterium ansieht, birgt folglich keinerlei Zugeständnisse an verfassungsrechtlich und ethisch bedenkliche Forderungen nach einer Legalisierung der „aktiven Euthanasie“. Für die Organentnahme bei nicht einwilligungsfähigen hirntoten Kindern läßt sich eine stellvertretende Zustimmung durch die sorgeberechtigten Eltern mit Blick auf Art.6 Abs.2 verfassungsrechtlich rechtfertigen.

Prof. Dr. Hans-U. Gallwas, (Verfassungsrechtler, Uni München), Prof. Dr. Gerd Geilen (Lehrstuhl für Strafrecht, Uni Bochum), Prof. Dr. Linus Geisler (Chefarzt, Gladbeck), Dr. Inge Gorynia ( Neurophysiologin, Berlin), Prof. Dr. Wolfram Höfling (Staatsrechtler, Uni Gießen), Johannes Hoff (Theologe), M.A., Dr. Martin Klein (Neurologe), Prof. Dr. Dietmar Mieth (Moraltheologe, Uni Tübingen), cand. jur. Stephan Rixen, Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth (Direktor des Institut für Hirnforschung, Bremen), Jürgen in der Schmitten (Allgemeinmdediziner, Uni Düsseldorf), Dr. habil. Jean-Pierre Wils (Moraltheologe; Uni Tübingen