: Horch mal, was da spricht
Redet, singt, grunzt und schnaubt in Stimmen: Die erstaunliche Sängerin Hilde Kappes und ihre Musik ■ Von Mirjam Schaub
Die Stimme bettelt, klagt, quäkt, nein: grunzt, wütet, schnaubt, ja: schwittert, jazzt, lacht. Sie schraubt sich hoch in die Choräle der Himmlischen Wesen, stürzt in die Tiefe, gesellt sich zu den Baßtönen der gefallenen Engel, liebt das Volkslied, opfert Bach, achtet die Zwölftonmusik, imitiert den Blues und hat eine Schwäche für Schnulzen.
Vom Publikum abgewandt füllt die junge Sängerin im Wallegewand („Kann ich die Boa ablegen?“) in ihren Konzerten auch die Pausen selbst. (Halblaut): „Hilde Kappes, find' ich unheimlich gu- hu-ut.“ Dann dreht sie sich um mit strengem Blick, schiebt die Vogelbrille das Nasenbein hoch, wirft die hüftlangen Diamanda-Galas- Haare zurück, hängt sich eine riesige Tonne um den Hals, legt sich ins Kreuz und beginnt zu trommeln. Für die Länge eines Liedes nur sieht sie aus wie ein theweleitsches Flintenweib. Und dann? Wer bitte ist diese Frau?
Mit Liza Minelli, Nina Hagen, Marianne Rosenberg und im selben Atemzug mit der Callas hat man die heute einundreißigjährige Hilde Kappes – ihr Charisma, das Timbre ihrer Stimme, ihren Drive – verglichen. Ja, die Hagen habe sie einmal live gehört und die Stimme („Die Lautstärke!“) nicht ertragen, ganz schlecht sei ihr geworden. Wenn schon „Vorbilder“, dann nennt sie lieber Meredith Monk und Shelley Hirsch, „weil sie mir die Erlaubnis dazu gegeben haben.“
Die Erlaubnis, das zu tun, was ihr gefiel, gab man Hilde Kappes zuerst in Wien, im alten Gardehaus von Schönbrunn, wo sie auf der Hochschule für Musik und darstellende Kunst vier Jahre lang Rhythmus (nach Jacques Emile Dalcroze) studierte. Hier lernte sie trommeln, den Takt halten zu trauriger Weise auf der Soldatenpauke, „weiter, weiter geht das Leben“, sie lernte, zu den Sambaklängen der Surdo, einer brasilianischen Trommel, zu singen. Atemtechnik, Körperbeherrschung, Ausdruckstanz, Komposition, Arrangieren haben ihrer scheinbar voraussetzungslos improvisierten „musico ab'Surdo“ den nötigen Raum und Halt gegeben. Eine Musik, zu eigensinnig für das große Publikum und zu großartig für eine kleine Gemeinde.
Ihre Stimme am Rand des guten Operngeschmacks dem Markt zu den üblichen Gesetzen anzubieten, behagt Hilde Kappes nicht. Vor Jahren schon hätte sie Material genug gehabt für mehrere CDs. Doch für eine Improvisationskünstlerin, deren Stimme bloß ein gestimmtes Publikum braucht, um sich zu entfalten, ist die erste gepreßte CD auch wie ein kleiner Tod. „Du sitzt allein mit einem Tontechniker eine Woche lang in einem Studio, er dreht ernst an seinen Knöpfchen und wartet, daß du endlich singst. Ich konnte aber so nicht singen. Wie sollte ich mich in Stimmung bringen?“
Ach, du red'st Kappes, heißt an der Mosel soviel wie Blödsinn reden. Hilde(gard) Maria Dorothea hat aus ihrem Mädchennamen und dem Spott der Kindertage ihr Programm gemacht. Auf der Bühne – und nicht nur dort – spricht sie eine geheimnisvolle Sprache, die Wort für Wort und Satz für Satz kein Mensch versteht. Die wenigen, eingestreuten deutschen Worte („Hilde Kappes“ – „CD“ – „30 Mark“) wirken dann direkt wie ein Befehl, sie bleiben im Bewußtsein, „clara et distincta. Si ti li tuen faa jää / ko bahla fün schi schaja / sch schärsch'de somsta ...“
Daß es eine Privatsprache nicht geben könne, und wäre sie privat, so keine Sprache, schrieb Wittgenstein ins längst verlorene Arbeitsbuch. Worte sind Worte, sofern sie sich wiederholen, und also ein sprachphilosophisches Nichts auf „Schortuanisch“. Für unsere Ohren klingt es wie sephardisches Spanisch, vielleicht ägyptisches Arabisch. (Nein, sie spreche keine fremden Sprachen, nur Englisch, und das zähle nicht. Gott sei Dank, sagt sie, denn sonst spräche sie nicht ...) Schortuanisch, zur kappeschen Sprechhaltung ritualisiert, bleibt dem Sing- und Sprechakt nach doch improvisiert. Alles gibt es auf Schortuanisch nur einmal und danach nie wieder. Wie lange sie in dieser Lautwelt denn schon zu Hause sei? „Fünf Jahre“, sagt sie „in etwa“, rechnet nach und zurück bis zum Todesjahr ihres Vaters, aber in sie dringen mag man nicht.
Schwer fällt es ihr, sich an die Zeit zu erinnern, als sie noch öffentlich sang, was alle zu verstehen glaubten. „Es hat sehr lange gedauert, bis ich mich traute“, sagt sie, bricht den Satz ab. Traute, „mich zu verstehen?“ Bis sie sich traute, beim Singen ihre Gefühle beim Klangnamen zu nennen. Ihren Stimmungen Stimme geben, „unschdni wunschndni schnünft vieh ... Ich war ein schrecklich sensibles Kind“, sagt sie, um Entschuldigung bittend, und ein grausames dazu.
„Mach nicht solche Stimmen“, hat ihre Mutter sie früher ermahnt. Ein Analytiker würde wahrscheinlich folgern, daß dieser katholischen Mutter ihre vierte Tochter – warum nicht der erste Sohn? – unheimlich und das Mädchen ein perfektes Medium war. Ein komisches Kind, das im Kirchenchor des Vaters das Ave Maria ebenso leicht als Tenor wie im Sopran singen konnte und sich einen Heidenspaß daraus machte. Ein mächtiges Mädchen, das alles, was es hörte, sofort nachahmen, verdoppeln und vervielfachen konnte. Das „Organ“ lehrte andere früh das Fürchten und erwies sich jüngst als die schlagkräftigste Waffe, als eine Horde klappmessertragender Halbwüchsiger in der U-Bahn Hilde Kappes dumm kam.
Wenn die Vokalistin heute mit dem Delay arbeitet, eine Weiberstimme sich erst zeternd, dann resigniert über die tiefer werdenden Schnarcher eines pater familias beugt, dann ist immer mehr als nur der schnelle Effekt im Spiel. Der „Blues in F“ beispielsweise gehört zu ihren wunderbar ironischen Stücken. Der Anlaß bleibt traurig, der Blues synkopisch. „My Mommy said, my father said, my sister said ... hmmm hhhmm, hmm .. don't talk too much!“
Erfolg, diese irreale und kaum meßbare Größe der Dritten Art, überraschte Hilde Kappes an einem Ort, den sie würdevoll und mit düsterer Miene wie eine Schädelstätte betreten hatte. Eingeladen war sie, wider alle Vernunft, zu einem Rockfestival, zu „Bands United“, vor einem Jahr im Berliner Tempodrom. Rock wollten die zweitausend Fans hören, was sie bekamen, war eine einzelne Frau ohne Synthesizer, dafür mit Soldatenpauke, die um ihr Leben trommelte und sang und sang und sang. Ihr Auftritt war so unwahrscheinlich, ihre Stimme so phantastisch, daß der kommerzkranke Tausendsassa André Heller aufmerksam wurde und Hilde Kappes einlud, im Varieté „Wintergarten“ zwei Monate lang jeden Abend aufzutreten, für ein paar Minuten nur. Sie sagte zu, nicht wissend, was das für ihre Stimme bedeutete.
Früher rauchte sie wie ein Schlot, sang höchstens einmal in zwei Monaten öffentlich, übte und unterrichtete MusikschülerInnen. Ihre Stimme schien ihr etwas Unendliches, Unverletzliches, Selbstverständliches zu sein. „Manchmal“, sagt sie, „kriegte ich ganz komische Gefühle, wenn ich höre, was da aus mir spricht.“ Sie experimentierte auf ihrer Stimme, mit kindlicher Neugierde, erstaunt über die unerschöpfliche Fülle der ihr verfügbaren Laute, Töne, Stimmen, wie auf einem neu entwickelten, soliden Instrument, das man direkt anspielen mußte, um es zum Klingen zu bringen. „Früher lachte ich über die vielen Opernsänger mit ihren ,Pflegemethoden‘, wie sie tagelang Pfefferminztee tranken und flüstern mußten, wo sie doch singen wollten“, erzählt sie und verzieht den Mund. Zwar endete Hilde Kappes Vertreibung aus dem Paradies nicht im „Wintergarten“, und auch nicht in der Teestube am Bahnhof Zoo, doch studierte sie seither die Annoncen für buddhistische Meditation und Tiefenentspannung aufmerksamer. Da sie sich vor gutgemeinten Anfragen kaum mehr retten kann, ist Ruhe ein teures Gut in ihrem Leben geworden.
Indes, an die Journalisten mit ihren schnellebigen Superlativen und Relativen will sich Hilde Kappes gern gewöhnen, auch daran, daß sie bald Geld („Wieviel?“) für ihre Interviews verlangen kann. Sie hat die längste Zeit für das Lesehonorar eines Lyrikers im SO 36 gesungen. Sie wird ihre Stimme schonen und sich rar machen müssen, falschen Freunden mit falschem Lächeln begegnen dürfen, obwohl sie dazu keine Lust hat. Nur eins, das interessiert sie, bevor es losgeht auf der kommerziellen „Schiene“, die ihr Angst macht. „Warum schicken mir die Zeitungen immer Frauen?“ fragt Hilde Kappes, auf halbem Fuß beim Abschied. „Weil sie mich besser verstehen?“ O nein, weil sie (die Zeitungen? die Frauen?) grausam sind. Wir trennen uns im Regen, auf einer vielbefahrenen Kreuzung.
CD „musica ab'Surdo“ (kip records; Vertrieb: ITM-Media). Hilde Kappes singt am 2. Juli im Ballhaus Naunynstraße in Berlin- Kreuzberg.
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