■ Nachruf: Der Philosoph E.M. Cioran in Paris gestorben
Wer zu Beginn der achtziger Jahre zu ihm fand, konnte glauben, er habe es mit einem Zeitgenossen zu tun: der radikale Pessimismus des rumänisch-französischen Philosophen Emile Cioran schien plötzlich, auf dem Höhepunkt der Öko- und der Friedensbewegung mit ihren apokalyptischen Ängsten, im Einklang mit der allgemeinen Stimmung. Der Mensch ein Geschwür der Schöpfung, der sogenannte Fortschritt eine fromme Lüge, der historische Prozeß ein Hinken von Katastrophe zu Katastrophe, die Geschichte eine Sinngebung des Sinnlosen – solche Lehren werden in allen seinen Bücher variiert.
Die sprechenden Titel zeigten an, daß es ums Ganze ging – angefangen mit dem noch 1934 in Bukarest veröffentlichten Erstling „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“ über die „Lehre vom Zerfall“ (1949) bis zu „Vom Nachteil, geboren zu sein“ (1973).
Allerdings hatte dieser Cioran mit dem damaligen Zeitgeist überhaupt nichts zu schaffen, es sei denn in Form der totalen Verweigerung. Sein ganzes Schaffen war ja ein Aufstand gegen „die Geschichte“ und gegen alle Formen des Geschichtsdenkens – Theologie, Geschichtsphilosophie, Ideologie und Utopie gleichermaßen. Kaum verwunderlich, daß Ciorans Werk selber keine Entwicklung kennt, nur das Kreisen um den „reinen Zweifel“, als habe er die Einsicht in die Stagnation des Daseins durch die Struktur des eigenen Werks beglaubigen wollen.
Ciorans Pessimismus speiste sich aus anderen Quellen als der seiner begeisterten Leser (darunter Linke und Rechte, nur Apokalyptiker sind sie alle). Vielleicht hatte er auch etwas damit zu tun, daß dieser Denker in seinem Jahrhundert seltsam deplaziert wirkte. Man hat ihn mit den großen französischen Moralisten, mit La Rochefoucauld und Chamfort verglichen. Aber dazu fehlte dem stubenhaften Menschen in seiner bescheidenen Pariser Dachwohnung doch die Zuwendung zur Menschenwelt, ohne die der moralistische Durchblick nicht zu haben ist. Eigentlich war Cioran, der am Dienstag 84jährig in Paris gestorben ist, mit seinem Lektürekanon von Nietzsche, Lao Tse, Schopenhauer, Spengler und Tolstoi bis zu den Upanischaden ein verspäteter Mann des Fin de siècle.
Cioran ging es im Kern immer um die Abwesenheit eines hohen Sinnes in der Welt, und sein Werk ist eine einzige Klage darum, so zynisch und frivol es auch daherkommen mag. Ciorans Nihilismus war eine Maske, hinter der sich einer der letzten Metaphysiker versteckte. Jörg Lau
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