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■ Aus Armut wird Elend: Film über britische Nichtseßhafte im fsk

Alteisen, Kesselflicken und ein wenig Kleinkriminalität: damit bestritten die Tinkers bis vor kurzem ihr Nomadenleben. Jahrhundertelang zogen sie durch England und Irland. Sobald die Arbeit an einem Ort getan war, packten sie ihre Sachen und brachen auf zum nächsten. Heute, da die Dinge aus Plastik sind, bleibt für sie nichts mehr zu tun. Oliver Herbrich schildert in seinem Dokumentarfilm „Rules of the Road“ den Niedergang einer Minderheit, über die die Industriegesellschaft hinweggegangen ist.

Die streng katholischen Tinkers lebten in Clans. Mit 14 wurden die Mädchen verheiratet, die Frauen hatten zwischen zehn und 20 Kinder, die Söhne lernten das Handwerk vom Vater. Noch heute kann man am Rande der Straße, auf dem Brachland vor der Raffinerie, jenseits des Gewerbegebiets eine Gesellschaft erleben, die aus einem anderen Jahrhundert oder von einem anderen Kontinent zu stammen scheint. Doch aus der Armut ist Elend geworden: Schlamm, Kälte, Besitz- und Heimatlosigkeit, Analphabetentum, das Gift aus den Müllfeuern und ein früher Tod haben die Tinkers über Generationen mürbe gemacht. Dennoch erscheint ihnen die Seßhaftigkeit, die man ihnen aufzwingen will, als die schlechtere Alternative.

Monatelang hat Herbrich sie mit der Kamera bei ihren immer verzweifelteren Fahrten durch England begleitet. Er hat einen Schwellenzustand dokumentiert: schärfere Umweltgesetze, die „Criminal Justice Bill“ und die Rezession lassen ihnen keinen Bewegungsfreiraum mehr; der Zugang zu den Müllkippen wird ihnen verwehrt; kaum bleiben sie irgendwo stehen, verscheucht sie die Polizei, wenn nicht ohnehin eigens vor die Zufahrten gerollte Findlinge ihre Standplätze versperren. Herbrich führt als Ethnologe in die fremde Welt und zeigt deren Untergang wie im Zeitraffer. Ein paar geknickte Fotos bewahren die Clanchefs zusammen mit den Heiligenbildchen noch im Wohnwagen auf, ein paar Lieder können sie noch. Die Jüngeren, die dem Druck nachgegeben und sich in Barackendörfern eingerichtet haben, lernen das Cant oder Gammon, das Tinker-Rotwelsch, im Sprachkurs.

Während ihnen kaum eine andere Chance bleibt, als widerwillig seßhaft zu werden und von Sozialhilfe zu leben, können es sich die Kinder der Angestellten leisten, den umgekehrten Weg zu gehen: die New Age Travellers, romantische Hippies, die auf der Suche nach dem „Echten“ sind, kaufen den Tinkers ihre nicht mehr benötigten Fuhrwerke ab. Zu Dub und Jungle aus dem mitgeführten Soundsystem kiffen sie fröhlich an ihren viel umweltfreundlicheren Lagerfeuern. Bis auch sie vertrieben werden. Jörg Häntzschel

„Rules of the Road“ von Oliver Herbrich (BRD 1993, 87 min), täglich 21 Uhr, fsk, Kino 2, Segitzdamm 2, Kreuzberg.