: Erst 10 von 130 Anträgen bearbeitet
■ Schleppende Bearbeitung von Anträgen zur Pflegeversicherung / Berlin hat höchste Ablehnungsquote / Widersprüche werden monatelang zurückgestellt
Drei Monate nach dem Start der Pflegeversicherung zeigt sich die Sozialverwaltung grundsätzlich zufrieden. Übergangsprobleme seien bei einer Jahrhundertreform unvermeidbar. Immerhin seien schon fast die Hälfte der 60.000 Anträge vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) bearbeitet worden. Mitarbeiter von Pflegestationen sprechen dagegen von einer „Katastrophe“ und „enormen Schwierigkeiten“.
„Wir haben im Januar und Februar rund 130 Anträge bei den Pflegekassen eingereicht. Bearbeitet worden sind davon bisher ungefähr 10“, erzählt Jutta Probst, Geschäftsführerin einer Weddinger Hauspflegestation. Zwar kann ein Antrag beim Sozialamt gestellt werden, um die Wartezeit zu überbrücken. Vielversprechend ist dies nicht. „Die Sozialämter sind so überlastet, daß die Bearbeitung auch nicht schneller geht als bei den Pflegekassen“, so Probst.
Nicht nur die Bearbeitungszeiten, sondern auch die Ablehnungsquote ist in Berlin extrem hoch. Lediglich 43 Prozent der bearbeiteten Anträge wurden bisher bewilligt. „Bei einer Patientin lautete die ärztliche Diagnose ,Akuter Verwirrtheitszustand‘. Trotzdem wurde der Antrag auf tägliche Überwachung der Medikamenteneinnahme abgelehnt“, so Probst.
Der Sozialarbeiter der Pflegestation legte gegen die Entscheidung Widerspruch ein. Über den, so teilte ihm der MDK mit, werde jedoch erst entschieden, wenn die seit Anfang des Jahres aufgestaute Antragsflut abgearbeitet worden ist. Durch die unklare Finanzierung der Pflegeleistungen haben sich in der Weddinger Pflegestation offene Rechnungen in sechsstelliger Höhe angesammelt. Notgedrungen ist man dazu übergegangen, die Betreuung in solchen Fällen zu beenden. Wer die Pflege nicht privat bezahlen kann, bleibt auf der Strecke.
Ähnliche Erfahrungen haben auch die Mitarbeiter des gemeinnützigen Felix-Pflegeteams für HIV- und Aids-Patienten gemacht. „Wir können es uns in vielen Fällen einfach nicht leisten, die Pflege vorzufinanzieren. Dabei ist es ja eigentlich unser Anspruch, den Patienten die Betreuung zu bieten, die sie benötigen“, kritisiert Geschäftsführer Rainald Wurzer die unsichere Finanzsituation. Verheerend wirkt sich auf die Arbeit mit Aids-Patienten die unflexible Handhabung der Begutachtung aus. Die Einstufung in eine der drei Pflegestufen setzt ein Gutachten durch einen Arzt der MDK voraus. „Bei Aids-Patienten schwankt das Krankheitsbild aber viel extremer als bei anderen Patienten. Das kann sich von Tag zu Tag verändern, so daß das Gutachten vollkommen zufällig und willkürlich ist“, erklärt Wurzer. Bei den Krankenkassen sieht man darin kein Problem. Ein Gutachten sei schließlich nicht abschließend, es könne jederzeit eine neue Untersuchung beantragt werden, lautet die lapidare Auskunft. Doch selbst beim MDK schätzt man die durchschnittliche Bearbeitungsdauer auf sechs bis acht Wochen, so daß der Hinweis auf die jederzeit mögliche Neueinstufung wie blanker Zynismus wirkt. Der Vorschlag des Felix-Teams lautet deshalb, Aids-Patienten grundsätzlich über die Krankenkassen zu finanzieren. Sollte sich diese Forderung nicht durchsetzen, sieht Wurzer für die Betreuung schwarz. „Wir müssen sehr flexibel auf die Veränderungen bei den Patienten reagieren. Außerdem betreuen wir viele Menschen, die eine intensive Pflege brauchen“, so Wurzer. „Die Sätze der Pflegekasse sind nicht annähernd kostendeckend“, stellt er fest. Zahlte die Krankenkasse bislang für hauswirtschaftliche Versorgung und Grundpflege bis zu 12.810 Mark monatlich, liegt der Pflegekassensatz bei 2.800 Mark. In Härtefällen können bis zu 3.750 Mark monatlich gezahlt werden. Im Gesetz wurde jedoch festgelegt, daß höchstens drei Prozent der Rund-um-die-Uhr-Pflegebedürftigen in den Genuß dieser Zusatzleistung gelangen dürfen.
Diese Vorgabe wird um jeden Preis eingehalten: Sollten mehr als drei Prozent der Schwerpflegebedürftigen die Richtlinien für die Härtefallregelung erfüllen, werden die Pflegekassen den einfachsten Weg beschreiten. „Dann werden die Richtlinien so verändert, daß die Dreiprozentgrenze nicht überschritten wird“, so der Sprecher des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen. Gesa Schulz
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