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Keine Normalität, aber viele offene Fragen

■ Zum erstenmal seit dem Fall der Mauer reist Kanzler Kohl nach Polen

Warschau (taz) – „Warum“, so fragte eine polnische Journalistin bei der Pressekonferenz von Ministerpräsident Jozef Oleksy am Montag abend, „warum haben Sie den Bundeskanzler nicht wieder ausgeladen? Oder gehört die Massenverhaftung von polnischen Bürgern in Frankfurt an der Oder auch zu den ,guten Beziehungen‘ zwischen Warschau und Bonn?“ Die Frage machte deutlich, daß das skandalöse Vorgehen des Bundesgrenzschutzes, der vor rund zwei Wochen 300 polnische Saisonarbeiter 24 Stunden festgehalten hatte, weiterhin die polnische Öffentlichkeit beschäftigt. Auch Oleksy kann sich dem nicht entziehen. Der Ministerpräsident hält den Vorfall zwar „im Grunde für erledigt“. Dennoch, so fügte er hinzu, wäre es gut, wenn „der Bundeskanzler in Polen dazu Stellung nehmen würde“. Ansonsten sind deutsche und polnische Behörden vor dem morgen beginnenden Besuch des Bundeskanzlers jedoch redlich bemüht, die „Normalität“ der beiderseitigen Beziehungen zu demonstrieren. Schließlich ist es die erste Reise in das Nachbarland seit dem Fall der Mauer, und die soll zu einer Tour des Lächelns werden. Von Donnerstag bis Samstag sind vor allem „schöne“ Programmpunkte vorgesehen, fast hat man den Eindruck, als werde Kohl in erster Linie die touristischen Höhepunkte Polens kennenlernen. So besucht er in Krakau die Königsburg, den Wawel, und auch ein Franziskanerkloster, das irgend etwas mit Ludwigshafen, Kohls Heimatort, zu tun haben soll, steht auf dem Programm. Die wichtigsten Termine sind eine Rede vor dem Parlament sowie die Eröffnung der Deutsch-Polnischen Handelskammer.

Bei der Pressekonferenz wurde aber auch deutlich, daß die von Kohl noch ganz „im Geiste der Versöhnung“ geplante Reise mit den Erwartungen des polnischen Premiers kollidiert. „Vor sechs Jahren“, so Oleksy, „als Bundeskanzler Kohl mit Ministerpräsident Mazowiecki zusammentraf, haben die beiden Regierungschefs eine Vergangenheit abgeschlossen und den Weg zur Versöhnung freigemacht. Seitdem haben wir einen weiten Weg zurückgelegt. Heute sind wir an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts: Gemeinsam in Europa! — unter diesem Motto sollte der diesjährige Besuch des Kanzlers stehen.“

Für viele Polen ist Deutschland jedoch weiterhin ein Land der Widersprüche. Einerseits steht das Nachbarland unangefochten an der Spitze der Handelpartner Polens, andererseits investiert kaum ein deutsches Großunternehmen in Polen. Einerseits reden die deutschen Politiker von der Versöhnung mit dem Nachbarn, andererseits erinnerte das Vorgehen der deutschen Polizei in Frankfurt viele an den Zweiten Weltkrieg, an die Ideologie von Herren- und Untermenschen. „Ist es Deutschland wirklich ernst mit der Absicht, Polens Aufnahme in die EU und in die Nato zu unterstützen“, so fragen zweifelnd viele Kommentatoren. Zweifel, die noch dadurch genährt wurden, daß Kohl sich in einem Interview des polnischen Fernsehens dafür aussprach, den Beitritt in beide Organisationen zu verbinden. Nach Ansicht der meisten polnischen Politiker würde dadurch die sofort mögliche Nato- Mitgliedschaft weiter verzögert. Viel beachtet wurde in diesem Zusammenhang auch das jüngste Gutachten der deutschen Friedensforscher, in dem diese sich gegen eine Osterweiterung der Nato aussprachen. „Was wollen die Deutschen wirklich“, auf diese Frage muß Kohl eine Antwort geben. Eine „Tour der Normalität“ wird diese Reise sicher nicht. Gabriele Lesser

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