: Der Drang nach Freiheit
Die RAF-Gefangene Eva Haule plante ihre Befreiung aus dem Gefängnis – das belegt ein Anfang Mai sichergestellter Kassiber ■ Von Gerd Rosenkranz
Berlin (taz) – Der Vorgang selbst ist eher skurril, der Hintergrund bitterernst. Vor allem für Eva Haule. Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte die zunächst 15jährige Haftstrafe der RAF-Gefangenen im April 1994 in eine „lebenslange“ umgewandelt. Eine düstere Perspektive, die die Verurteilte über freundlichere Alternativen nachsinnen ließ.
Anfang Mai 1995 steckte Haule einer kurz vor ihrer Entlassung stehenden Mitgefangenen einen Kassiber zu. Für den kundigen Leser ist die geheime Post eindeutig. In dem zweiseitigen Schreiben werden Möglichkeiten einer Befreiungsaktion diskutiert, für die die Inhaftierte schon vor Jahresfrist Helfer außerhalb der Knastmauern gefunden haben muß.
Die geheime Post flog beim Prozeßbesuch auf
Am 4. Mai 1995 verließ Irene M. nach viermonatiger Haft wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz das Gefängnis Frankfurt-Preungesheim, in einem Brustbeutel versteckt die brisante Nachricht Eva Haules an ihre unbekannten Mitstreiter. Der Brief kam nie an. Denn Irene M. deponierte ihn nicht an einem sicheren Ort, bis er, wie von ihr bei späteren Vernehmungen angegeben, abgeholt werden würde. Die mit der linken Szene wenig vertraute Frau begab sich vielmehr schnurstracks zum Oberlandesgericht Frankfurt, wo an jenem Donnerstag gegen Birgit Hogefeld, die 1993 in Bad Kleinen festgenommene frühere RAF-Aktivistin, verhandelt wurde.
Mit Hogefeld – sie sitzt (von Haule abgeschirmt) ebenfalls in Preungesheim in Untersuchungshaft – hatte sich Irene M. während ihrer Knastzeit angefreundet. Es sollte wohl ein Solidaritätsbesuch sein. Jedenfalls bemerkten die Sicherheitsbeamten, daß die Besucherin während des Verhandlungstages durch die Trennscheibe winkend Kontakt zur Angeklagten aufnahm. Nach Verlassen des Gerichtssaals wurde sie gefilzt. Haules Schreiben flog auf. Zunächst hielten die Behörden Hogefeld für die Absenderin.
Der Staatsschutzapparat war alarmiert, die Zellen beider Gefangenen wurden durchsucht, Ermittlungsverfahren gegen Haule, Hogefeld und Irene M. in Gang gesetzt. Das war nicht ganz unproblematisch: bei Haule, weil es einen Straftatbestand „Nachdenken über Freiheit“ nicht gibt, bei Hogefeld, weil sich rasch herausstellte, daß sie weder Absenderin noch Adressatin des Kassibers sein konnte, bei Irene M., weil sie den Inhalt des Briefes möglicherweise gar nicht kannte.
Vielleicht erklärt dieser Umstand, warum Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt in dem Schreiben anfangs auch Hinweise auf „geplante Anschläge“ entdecken wollten. Dafür spricht buchstäblich nichts. Aber die gezielte Mißinterpretation öffnete den Weg für Ermittlungen nach Paragraph 129a des Strafgesetzbuches wegen „mitgliedschaftlicher Betätigung in einer terroristischen Vereinigung“ (im Fall von Haule und Hogefeld) und „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ (im Fall der Briefträgerin).
Die Version „Anschlag oder Gefangenenbefreiung“ steckten die Staatschutzbehörden Anfang Juni der in diesen Dingen gewöhnlich gut desinformierten Illustrierten Focus. Mitte Juni erschien der Artikel, in dem sich die Redaktion auf Interpretationen aus dem Bundeskriminalamt berief. Der Kassiber selbst blieb unter Verschluß.
Darauf muß sich auch Eva Haule verlassen haben. Den Vernehmungsbeamten des Bundeskriminalamts versicherte sie, in dem Brief gehe es allein darum, „eine Diskussionsstruktur abseits der totalen Zensur und Überwachung zu organisieren“. Ihr Anwalt Gerd Klusmeyer wiederholte diese Version vor wenigen Tagen. Wegen der „gestreuten Hetzpropaganda“ erstattete der Jurist Strafanzeige gegen „unbekannte Mitarbeiter von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt“. Außerdem verlangt er die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen seine Mandantin.
Die überraschende Tatsache, daß sich Eva Haule ohne Umschweife als Absenderin des Kassibers bekannte und auch noch bereitwillig zur Sache aussagte, erklärt Klusmeyer so: „Es drohten Auswirkungen auf die Haftbedingungen, bis hin zur Verlegung in ein anderes Gefängnis.“ Knastalltag, auch nach dem faktischen Ende der RAF. Haules und Hogefelds Anwälten wird die verlangte „Akteneinsicht“ bisher verweigert, um die „weiteren Ermittlungen nicht zu erschweren“.
Die RAF war als Befreier nicht erwünscht
Eva Haule besteht darauf, ihr Brief sei „nicht verschlüsselt“ gewesen. Das trifft zu. Die unbekannten Adressaten hätten zweifellos auch ohne die Mühen der Dechiffrierung realisiert, was Sache ist. Sie kennen die Absenderin, wissen, worum es geht, und kommunizieren offensichtlich schon seit geraumer Zeit mit der Gefangenen. Ein Zufallsleser dagegen versteht vermutlich nur Bahnhof. Er kennt den Zusammenhang nicht. Er weiß nicht, daß die Verfasserin zu jener Gefangenengruppe zählt, die sich im Herbst 1993 nach hartem ideologischem Streit von der „Rote Armee Fraktion“ im Untergrund und der Mitgefangenen Birgit Hogefeld absetzte. Beim Stichwort „alte Familie“, denkt er nicht gleich an die RAF, bei der „bösen Schwester“ nicht an Birgit Hogefeld und das „faule Ei“ würde er auch nicht sofort als jenen Verfassungsschutz- Spitzel identifizieren, der die RAF-Fahnder vor zwei Jahren nach Bad Kleinen führte. Das ist der Sinn dieser Form der verschämten Codierung.
Im ersten (auf dieser Seite nicht dokumentierten) Teil des Briefes richtet sich Eva Haule an eine Gruppe außerhalb der Mauern, die wohl die Fahne bewaffneter Militanz weitertragen will, nachdem die RAF im April 1992 erklärt hatte, sie werde „Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ vorerst einstellen. Es ist insofern wenig überraschend, daß Bundesanwaltschaft und Verfassungsschutz die „Antiimperialistische Zelle“ (AIZ) als möglichen Adressaten ausgemacht haben. Die merkwürdige Truppe, die die historische RAF- Kehrtwende von 1992 stets als Kotau vor dem imperialistischen Staat mißverstand, macht inzwischen durch Sprengstoffanschläge auf lokale Parteibüros und die Anwesen von CDU-Hinterbänklern von sich reden. Im ideologischen Streit der Gefangenen stand sie fest zu jener Fraktion, der auch Eva Haule angehört. Trotzdem ist die These von der AIZ-Connection hochspekulativ. Dieser Verein würde kaum auf die Idee verfallen, die Befreiung Eva Haules ausgerechnet den müde gewordenen RAF-Kämpfern anzudienen.
Die Reanimierung der RAF erwägen jedoch jene, denen Haule in ihrem Kassiber antwortet. Sie verwirft die Idee schließlich, soweit die Einbindung der „alten Familie“ über „ganz praktische Hilfe“ hinausgeht. Die Gründe: Erstens beschleichen sie massive Zweifel, ob die RAF nach dem mit harten Bandagen und (szene-)öffentlich ausgetragenen Ideologiestreit nun ausgerechnet für eine ihrer schärfsten Gegnerinnen eine risikoreiche Befreiungsaktion starten möchte. Zweitens hat sie „wirklich Schiß“, daß nach dem Verfassungsschutz-Spitzel Klaus Steinmetz „da noch ein faules Ei ist“. Drittens sei „doch logisch“, daß die „alte Familie“ es nur mache, wenn die „böse Schwester“ dabei sei. Hogefeld und Haule sind jedoch innerhalb des Knastes streng voneinander getrennt. Deshalb sei „im Moment überhaupt nicht absehbar, wann das mal von den Bedingungen her möglich sein kann“.
Im Kassiber werden jene angeführt, die das „Danach“, „die nächsten Schritte“, also wohl das Untertauchen nach dem Ausbruch organisieren sollten. Diese „besten Freunde“, schreibt Haule, „wissen von Euch nichts und das ist auch richtig so“. Dazu kommt „mein Mensch“, der helfen soll, „wenn's mal am Punkt ist“.
Der „Mensch“ scheint in weiter Ferne, seit Irene M. – kaum entlassen – beschloß, Birgit Hogefeld in ihrem Prozeß zur Seite zu stehen. Was bleibt, sind drei Ermittlungsverfahren, die eher früher als später eingestellt werden, ein Polizeiapparat, der den Brief zu gerne den richtigen Adressaten überbringen würde, und eine um eine Hoffnung ärmere Gefangene.
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