Die Menschheit wächst langsamer

■ Die UNO stellt Weltbevölkerungsbericht vor / Bilanz der Kairoer Konferenz / Die schlechte gesellschaftliche Stellung der Frauen ist unverändert / "Graue Revolution" in den Industriestaaten

Berlin (taz) – Obwohl es nach wie vor große regionale Unterschiede gibt, wächst die Zahl der Menschen weltweit immer langsamer. Überraschend ist auch für die Fachwelt, daß die Zahl der Geburten gerade in einigen Staaten Afrikas stärker zurückgeht als erwartet. In absoluten Zahlen ist der Zuwachs mit jährlich 86,5 Millionen Menschen aber der höchste, der jemals verzeichnet wurde. Mit diesen Ergebnissen wartet der Weltbevölkerungsbericht 1995 des UN- Bevölkerungsfonds UNFPA auf, den Charlotte Höhn in ihrer Eigenschaft als Mitglied der Kommission für Bevölkerungsfragen der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen vorstellte.

Der Schwerpunkt des Berichtes liegt aber bei den Ergebnissen der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo vom Herbst letzten Jahres. Dort hatte es eine Abkehr vom überkommenen Konzept der Bevölkerungspolitik gegeben. Die Konferenz rückte bei dem Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Entwicklung die zentrale Rolle der Frauen ins Zentrum der Überlegungen. Reproductive health, die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit und des Risikos für die Mütter sowie „Empowerment of Women“, also die Notwendigkeit, Frauen in die Lage zu versetzen, selbst über ihr Leben – und damit auch über die Anzahl ihrer Kinder – zu bestimmen, sind die wichtigsten neuen Konzepte.

Und so erscheinen die demographischen Zahlen nur in tabellarischer Form am Ende des Berichtes. Dem inhaltlichen Teil liegen andere Gedanken zugrunde. Die Müttersterblichkeit ist in den Entwicklungsländern 15- bis 50mal so hoch wie in der „Ersten Welt“. Drei Viertel aller Todesfälle von jungen Frauen und Müttern haben ihre Ursache in Komplikationen während der Schwangerschaft, (Fehl-)Geburt oder Abtreibung. Das sind jährlich eine halbe Million Todesfälle, die durch entsprechende medizinische Versorgung meist vermieden werden könnten.

Ein Drittel aller Erkrankungen von Frauen in Entwicklungsländern stehen ebenfalls im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt oder werden durch Infektionen des Genitalbereiches oder Aids verursacht. Unsachgemäße Abtreibungen zählen zu den größten Bedrohungen für die Gesundheit der Frauen. Von den jährlich 40 Millionen Abtreibungen weltweit werden nur zwei Drittel legal und nur 20 Millionen sachgemäß durchgeführt. Zwei Drittel der 960 Millionen AnalphabetInnen auf der Erde sind Frauen. Von den rund 130 Millionen Kindern, die keine Primärausbildung erhalten, bilden 90 Millionen Mädchen die überwältigende Mehrheit. Frauen werden nicht nur in ihrem Zugang zu Bildung, sondern auch zu Land, Krediten und Jobs benachteiligt. Nichtsdestotrotz stellen Frauen 75 Prozent aller Nahrungsmittel her und machen weltweit zwei Drittel der lohnabhängig Beschäftigten aus.

Wenn diese Trends nicht umgekehrt werden, so UNFPA, könnte die Weltbevölkerung im Jahre 2050 knapp zwölf Milliarden Menschen zählen. Zur Zeit sind es 5,75 Milliarden – die Sechs-Milliarden- Grenze wird 1998 überschritten werden. Verläuft die weitere Entwicklung günstig, wird es im Jahr 2015 7,1 Milliarden Menschen geben und im Jahr 2050 knapp acht Milliarden. Die Fachleute hoffen, daß die Anzahl der Menschen ab Mitte des nächsten Jahrhunderts langsam wieder abnimmt.

Aber der Blick in die Zukunft reicht noch ein kleines Stück weiter. In den Industrieländern wird gerade die „Graue Revolution“ Wirklichkeit – der Anteil alter Menschen nimmt ständig zu. Gab es 1950 noch 200 Millionen Menschen über 60 Jahre, werden es 2025 bereits ungefähr 1,2 Milliarden sein. Zu diesem Zeitpunkt werden allein 137 Millionen Menschen auf der Erde leben, die älter als 80 Jahre sind. Welche gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Prozeß mit sich bringt, ist bisher kaum abzusehen. Klar ist nur, daß die Industrieländer dieses Problem zuerst zu spüren bekommen werden und daß sie zuerst Lösungen dafür entwickeln müssen. Uwe Kerkow